Berlinale in der Krise: Ende gut, nicht alles gut
Die Berlinale steckt in einer schweren Krise im Wettbewerb der großen Festivals. Immerhin hat sich die Jury weise entschieden – für "Child's Pose".
Man merkt die Absicht schnell, und man ist verstimmt: Hassmonologe im Netz peilen meist nur die nächstschönste Klickrate an. Der hier aber, mitten in die Berlinale hineingebloggt, atmet heftiges Leiden. „Gekünstelte Dialoge. Reglose Gesichter. Zäh zerdehnte Zeit. Willkommen in der Welt des künstlerisch hochwertigen Kinos“, hebt er an und wird zügig konkret. „Als ich gestern Thomas Arslans ,Gold’ absaß und mein Geist so unterbeschäftigt war, dass ich permanent gegen den Drang ankämpfen musste, niveaulose Zwischenrufe zu machen, hatte ich auf einmal keine Lust mehr.“ Der sich da so temperamentvoll Luft macht, heißt Dietrich Brüggemann und hat mit „Renn, wenn du kannst“ und „3Zimmer/Küche/Bad“ bereits zwei bemerkenswerte Filme vorgelegt. „Kann mir mal einer erklären, was daran toll ist, wenn ein Film mir zwei Stunden lang den Rücken zukehrt?“, wütet er weiter. „Was sind das für Regisseure, die die ganze Filmgeschichte gefressen haben, aber nicht in der Lage sind, ein einziges echtes Gefühl auszulösen?“
Sein „J’accuse“ hat der 36-jährige Filmemacher scharf mit „Fahr zur Hölle, Berliner Schule“ überschrieben. Es lässt sich aber ohne beträchtliche Mühen auf den Wettbewerb dieser 63. Berlinale insgesamt übertragen. Selbst wenn diese 19 Filme umfassende Konkurrenz nach katastrophalem Beginn schlusswärts noch mancherlei Lichtpünktchen setzte: Dieses Festival hat sich, man muss es im Blick auf die diesmal besonders sichtbaren Strukturprobleme so deutlich sagen, offenkundig bestürzend entspannt aus der Riege der relevanten Weltfestivals verabschiedet. Cannes ist und bleibt die Nummer eins, man weiß es. Regisseure von Rang sind dort bleibend willkommen, darunter längst auch deutsche wie Fatih Akin und Andreas Dresen. Hier schreiben sie sich in ihrer produktivsten Lebensphase in die Filmgeschichte ein.
Das Prinzip der kreativen big names gilt, trotz mannigfaltiger Logistikprobleme des Festivals, nach wie vor auch für Venedig: Festivalchefs wie Marco Müller oder seit dem vergangenen Jahr erneut Alberto Barbera stehen – wie Thierry Frémaux in Cannes – für eine Einladungspolitik mit cineastischer Autorität. Toronto schließlich, das neben Berlin weltgrößte Publikumsfilmfestival, prunkt mit oscaraffinen US-Qualitätsfilmen, verzichtet aber auf einen Wettbewerb. Und wird trotzdem – oder vielleicht deshalb – immer stärker. Was dagegen bietet Berlin, was bot es dieses Jahr? Weil man die ganz großen Filmkünstler kaum mehr kriegt, jagt man, weil nun mal kein Topfestival ohne Top-Glamour auskommt, ersatzweise den Stars hinterher. Ihre Anwesenheit in der Stadt scheint die Einladung auch schlechtester Filme wie „Elle s’en va“ (Catherine Deneuve) und „The Necessary Death of Charlie Countryman“ (Shia LaBeouf) in den Wettbewerb zu rechtfertigen. Da ist es dann fast zum Fremdschämen, dass hochkarätige Jurys – in diesem Jahr war das siebenköpfige Gremium um Wong Kar Wai besonders erlesen zusammengestellt – über derlei offenbar aus nackter Not angeschleppte Minderwerke zu befinden haben.
Zum Glück gab es ein paar bessere Filme auch im Jahrgang 2013, und die Juroren haben aus dem schmalen Angebot an überhaupt preiswürdigen Filmen konsequent das Beste gemacht. Überraschend sind die Auszeichnungen folglich nicht ausgefallen, und führt die sichere Hand, mit der die Jury ihre acht Preise vergab, allenthalben zu Erleichterung. Der Goldene Bär für „Child’s Pose“, den dritten Langspielfilm des zeitweise in Deutschland aufgewachsenen 37-jährigen Rumänen Calin Peter Netzer, berücksichtigt nicht nur programmatisch den in der Gesamtrelation starken Auftritt der osteuropäischen Regisseure, sondern auch das politische Selbstverständnis diesen Festivals. Hinzu kommt: Die von Luminita Gheorghiu brillant verkörperte Hauptfigur ist eine fraglos starke Frau – und starke Frauen waren unübersehbar ein Leitmotiv dieses Jahrgangs.
Mutige Filme liefen nur in den Nebenreihen
Diese jeden Widerstand erstickende Mutter namens Cornelia, die mit der Wucht ihres Geldes und gesellschaftlichen Einflusses die Gefängnisstrafe ihres Sohnes nach einem tödlichen Verkehrsunfall abzuwenden sucht, ist zwar ein Monster, aber keine Karikatur. Die Inszenierung lädt sogar listig zum Mitleid mit ihr ein – denn ihr erwachsener Sohn ist ein Nichtsnutz, der ihr überdies mitten in ihren verzweifelten Bemühungen um seine Rettung damit droht, den Kontakt abzubrechen – eine verdammt späte Aufwallung eigenen Emanzipationsbedürfnisses. Wie sogar die zunächst maskenhaft verborgene Erschütterung Cornelias über den nun absehbaren Zerfall ihrer Familie anderweitig nützlich wird, noch einmal ausgerechnet im Kampf um den verlorenen Sohn – das war eine der wenigen großen Filmszenen dieser Berlinale. Angesichts der exquisiten Drehbuchkomposition dieses gemischten Charakters ist fraglos zu verschmerzen, dass Sebastián Lelios Kritiker- und Publikumsliebling „Gloria“ nur mit dem Darstellerinnenpreis bedacht wurde.
Auch die anderen Preise – allein drei weitere wurden an Beiträge an Bosnien und Kasachstan vergeben – gehen voll in Ordnung. Doch täuscht auch die Summe dieser final glücklichen Einzelentscheidungen nicht mehr darüber hinweg, dass die Berlinale im Wettbewerb der Besten nicht mehr mithalten kann. Oder vielleicht will? Der starke Synergieeffekt nach dem Prinzip „Das Beste aus allen Sektionen in den Wettbewerb“, der die ersten erfolgreichen Jahre des Direktors Dieter Kosslick prägte, scheint restlos dahin. Immerhin: Mutige, auf dem Festival viel diskutierte Titel wie die kontroverse indonesische Todesschwadronen-Doku „The Act of Killing“ oder Jacques Doillons wilde Liebeserkundung „Mes séances de lutte“ liefen zumindest in den Nebenreihen.
Auf Risiko geht der von einem inspirationsarmen Auswahlkomitee zusammengestellte und von Kosslick verantwortete Wettbewerb allerdings nicht – und wenn, dann allenfalls unfreiwillig. Tragisch anmutende Hindernisse wie die Vorverlegung der Oscar-Verleihung kommen hinzu. Diese Termin-Entscheidung hat die Attraktivität der Berlinale für die amerikanische Filmindustrie nahezu ausgelöscht. Aber muss man, weil man in Berlin unbedingt große US-Filme zu brauchen meint, folglich die oscarverschmähte Randware ausgerechnet in den Wettbewerb einladen? Oder sollte das, noch schlimmer, gar deren Bedingung für die Berlin-Reise sein?
Da wirkt die Präsenz von RegiePromis wie Gus van Sant und Steven Soderbergh, die absolute Nebenwerke nach Berlin geben, die zudem zu Hause teils bereits gefloppt sind, fast sarkastisch. Dass man das Programm mit längst weltweit rezensierten Restfilmen vom Sundance-Festival auffüllt, düstert das Gesamtbild noch weiter ein. Für die Franzosen als zweite große Filmnation gilt: Nach Berlin geht nur, wer es nach Cannes nicht schafft. Die drei Titel diesmal, mit den Stars Juliette Binoche, Isabelle Huppert und Catherine Deneuve, waren dafür geradezu erschlagende Beispiele – und die kluge Jury hat die Entscheidung des Festivals, das anämische Trio in den Wettbewerb aufzunehmen, erbarmungslos durch Nichtbeachtung kommentiert.
Warum aber sollte ein Filmemacher überhaupt mit seinem neuen Werk für den Berlinale-Wettbewerb fertig werden wollen?
Für ein Konkurrenzfeld, in dem das Durchschnittliche bis Unterdurchschnittliche seit Jahren das Gesamtangebot bestimmt – so unendlich anders als in Cannes, das stets zwei bis vier herausragende und absolut alterungsresistente Filme programmiert, wobei auch der Rest sich immer sehen lassen kann? Nur ein Beispiel: Sofia Coppolas „The Bling Ring“ ist längst fertig – aber hätte irgendjemand ernstlich angenommen, sie beehre damit nach ihren gloriosen Auftritten in Venedig und Cannes auch mal Berlin? In dieser durchaus mitverschuldeten Lage hat die Berlinale nur zwei Möglichkeiten. Entweder schärft sie radikal, und das um den Preis personeller Umstrukturierungen auf der gesamten künstlerische Entscheidungsebene, ihr Wettbewerbsprofil. Und fördert dabei noch stärker etwa die interessanten Neulinge aus entlegeneren Filmländern – auf Kosten des offenbar unvermeidlichen Starvehikelkinos, das sich künftig ausschließlich in einer Extra-Gala-Schiene feiern möge.
Oder sie schafft den Wettbewerb einfach ab. Und verwandelt sich in eine Art Toronto, ohne die US-Trümpfe allerdings. Ihr bliebe dann immer noch das, womit die Berlinale sich selber am liebsten schmückt: der Ruf als Publikumsfestival.