Kultur: Ende des Maskenballs
Sido gilt als umstrittenster Rapper der Nation. Sein zweites Album ist ein proletarisches Meisterwerk
Die Tür fliegt auf, und zwei junge Männer treten ein. Der Größere ist fast ganz in Weiß gekleidet, weißes Baseball- Käppi, hellgrauer Kapuzensweater, ausgeblichene Baggy-Pants, deren Schritt so tief hängt, dass er um die Kniekehlen schlackert, darunter weiße Turnschuhe; der andere trägt Schwarz. „Mein Fahrer“, sagt Sido und deutet über seine Schulter. Im Hof seiner Plattenfirma Aggro Berlin steht jetzt ein schwarzer Geländewagen, nagelneu. Der Rapper, den die meisten Menschen nur als den Typen mit der silbernen Totenkopfmaske und einer Zumutung namens „Arschficksong“ kennen, hat sich die Nobelkarosse gekauft, obwohl er keinen Führerschein hat. Mit Erregungsgeld. Die Fenster sind getönt. Er will nicht erkannt werden. „Ich gehe nicht mehr raus“, sagt der Mann im Büro über seine randlose Brille hinweg. „Ich werde überall erkannt. Es würde mir nicht mal helfen, mich vormittags auf die Straße zu wagen, wenn die Kids in der Schule sind. Für mich sind alle ein Problem. Ich dachte, ich könnte das steuern, indem ich die Maske trage. Aber das hat nicht funktioniert.“
Da sitzt er nun, die Wand in seinem Rücken gepflastert mit Bildern, die ihn als hohläugig-morbides Comic-Monster zeigen. Es gibt keinen, der hierzulande so stark polarisiert wie Sido. Wann immer in Deutschland über Verrohung und Verwahrlosung der Jugend gestritten wird, fällt sein Name. 180 000-mal wurde sein Debüt „Maske“ verkauft. Ein Manifest der Fäkalsprache, das auf den dritten Chartrang schoss, höher als je eine Independent-Platte zuvor. Ungewöhnlich grell beleuchten Songs wie „Mein Block“, die er zu Collagen sittlicher Perversionen montiert, soziale Kampfzonen. Heerscharen von Journalisten ließen sich von dem Newcomer durch das Märkische Viertel, eine Trabantenstadt mit 40 000 Einwohnern im Norden Berlins, führen, um nachzusehen, ob es die Knackis, Dealer, Zuhälter, Nutten und Junkies auch wirklich gibt, von denen seine Reime berichten. Zeilen wie „Reden ist nicht mein Ding/ Mein Ding ist lieber tief in dir drin“ gelten als der Gipfel an Geschmacklosigkeit. Und mit „Endlich Wochenende“ wurde ein Song von ihm verboten wegen der Verherrlichung von Drogenkonsum.
Mit gemischten Gefühlen wurde deshalb die zweite Platte des 26-jährigen Skandal-Rappers erwartet. Nun zeigt sich, ob sein Durchbruch ein geschickt eingefädelter Medien-Coup war. Oder ob der „Abschaum“ in Gestalt von Sido einen Helden hat, dessen Aufstieg auch viel über die Unüberbrückbarkeit sozialer Kulturen erzählt. Schließlich will man auch wissen: Wie geht es weiter für einen, der alle Tabus schon gebrochen hat? „Ich bin nicht böse. Ich tanz nur ab und zu aus der Reihe“, hebt er zu einer neuen Suada über sein verkorkstes Leben an. „Ich bin ein Gettokind mit Bierfahne und Adiletten/ Ich bin ein asozialer Proll und Prolet“, rappt Sido in „Straßenjunge“. Er sei kein Gangster, Killer oder Dieb, justiert er seine Selbststilisierung neu, sondern ein „Junge von der Straße“.
Dazu passt, dass der Mann mit der eisernen Maske kein Maskenmann mehr sein will – die Neugier seiner Fans hat ihm das glitzernde Unding, das längst zur Last auch für den Träger geworden ist, vom Kopf gerissen. Nun geht es nicht mehr um Karnevalstheater, sein zweites Album heißt „Ich“ und ist – um es gleich zu sagen – ein großartiges Hip-Hop-Oratorium. Aus dem genreüblichen Dunst verbaler Nebelkerzen schält sich die Silhouette eines Ausnahme-Rappers. Der steigert sich erneut in schockierende Sex- Fantasien („Ficken“) und einen abstoßend vulgären Jargon hinein, von dem man lieber verschont bleiben möchte, und auch seine Herkunft lässt er im Zwielicht von Gewalt und Drogen über Gebühr schillern („Ihr habt uns so gemacht“). Dennoch strotzt das Werk vor kraftvollen Hooklines, Sprachwitz und eindrücklichen Bildern wie der Schilderung einer düsteren Hinrichtungsszene („Bergab“). Im Beat-Gerüst brodelt es schwer, die Songs bestechen durch mitreißende Rockgitarren-Riffs, Chöre und Streicher. Das alles zielt auf die Hitparade, ohne dass der harte, räudige Kern aufgegeben würde. „Ich bin ein Rüpel, ein Raudie und ich kann Nerven sägen“, bekennt Sido, „gib mir ’ne Glotze und ’n Joint, ich brauch nicht mehr zum Leben.“
Dass aus den Untiefen seiner Jugend auch ein Sohn hervorgegangen ist, der beinahe dasselbe Schicksal erlitten hätte wie er selbst, enthüllt jetzt „Ein Teil von mir“. Es ist das rührende, aber gänzlich unsentimentale Bekenntnis eines Burschen, der als Vater versagte und verschwand („Ich war selbst noch ein Kind, wie sollt ich dich erziehn/ Warum sollte Mama einen nichtsnutzigen Kiffer lieben?“). Er habe zwar, erzählt Sido im Gespräch, immer Geld für Geschenke zusammengekratzt, aber eines Tages seien die zurückgeschickt worden. Nur zufällig erfuhr er vier Jahre später, wohin es seine Ex-Freundin und das Kind verschlagen hatte. Der Song zeigt Sido von einer verletzlichen Seite. Und zugleich laufen Bruchlinien durch diese Ballade, die vom aufplatzenden Fundament der Männlichkeit, Familie, sozialen Absicherung zeugen.
Kritikern der Popkultur ist der pure Materialismus der proletarischen Emporkömmlinge suspekt. Popstars wie Dieter Bohlen oder Noel Gallagher, die sich offen zu den Segnungen der Geldvermehrung bekennen, alles andere als sinnlos abtun und auch in der Wortwahl nicht eben zimperlich sind, haben einen schweren Stand. Sido tut einem darüber hinaus nicht mal den Gefallen, wenigstens Schönheit anzustreben. Er besingt sich selbst als „schlechtes Vorbild“. Und weiter: „Ich bin der verrückte Typ mit Schuhen aus Studentenleder“, woraus eine tief verwurzelte Verachtung für alles Intellektuelle spricht. „Ich kann von mir sagen“, hält er dagegen, „ich bin nicht dumm. Deshalb kann ich die Arroganz nicht ertragen, mit der man mir begegnet.“ Eine gewisse Paranoia gehört wohl dazu, wenn man immer unterschätzt wird.
Hass, Wut, das sind keine Posen. Sido atmet tief durch, angesprochen auf Werte, die ihm wichtiger als Erfolg und Reichtum seien. „Wichtig ist nur, dass ich nicht wieder zurück muss in gettoide Verhältnisse, wo das Geld nur für Toastbrot mit Zwiebeln reicht. Ich kann nicht wieder Kisten schleppen wie früher. Das könnte ich mir nicht geben, wenn Jugendliche an mir vorbeirennen. Du weißt, wie die sind.“ Solche Sätze erschüttern das Bild vom Provokateur. Die Tragik des deutschen HipHop, hat Sido einmal gesagt, bestehe darin, dass er von Mittelschichtskindern wie den Fantastischen Vier, Freundeskreis und Beginner definiert wurde, die stets Entertainment im Sinn gehabt hätten. Mit ihm, Bushido und den Proll-Rappern der „neuen Berliner Härte“ meldet sich die Unterschicht zu Wort. Für kunstfertige Effekte und Beats besaß sie lange nicht die Mittel. Politik sagt ihr nichts. So sieht sich Sido in der Tradition Zilles, dessen Bilder von nackten Kindern im Hinterhofdreck auch zunächst provokativ erschienen.
Wie stark seine Haltung davon geprägt ist, dass er und seine Clique aus Rap-vernarrten, arbeitslosen Jugendlichen vom Rest der Berliner Szene gemieden wurde, erzählt die Sido-Biografie „Ich will mein Lied zurück“. Der Künstler selbst nennt das Buch einen „besseren Merchandise- Artikel“. Trotzdem ist das Bemühen von Autor Marcel Feige aufschlussreich, Sidos Werdegang ins Licht einer Subkultur zu stellen, deren Protagonisten nie etwas anderes wollten als Musik zu machen – und keinerlei Hoffnung hegen konnten, damit durchzukommen.
Dass Sido heute sagt, er könne sich mit keinem anderen deutschsprachigen Rapper vergleichen, weil die alle „keine Kunst“ machen, sagt viel über seine Ambition. Ihm schwebt eine realitätssatte, affektgeladene Musik vor, deren emotionale Dramaturgie einen auf sich selbst zurückwirft. Wie problematisch das ist, veranschaulicht die Indizierung von „Endlich Wochenende“. Er wird es nie verstehen: Wie konnte gerade der Song, mit dem er deutlich die unheilvolle Dynamik von Drogen nachzeichnet, als deren Verherrlichung missverstanden werden?
Sido, „Ich“ ist bei Aggro Berlin erschienen. „Ich will mein Lied zurück“, aufgeschrieben von Marcel Feige, ist bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen, 214 Seiten, 14,90 Euro.
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