Wahl des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker: Elf Stunden Abstimmung, aber kein Nachfolger für Rattle
Kein neuer Chefdirigent in Sicht: Den ganzen Tag harrten die Journalisten vor der Dahlehmer Jesus-Christus-Kirche aus und warteten auf das Ergebnis der Philharmoniker-Wahl. Elf Stunden dauerten die Wahlgänge um Simon Rattles Nachfolger - eine Einigung gab es nicht. Chronik einer Hängepartie.
Innerhalb eines Jahres soll laut Orchestervorstand Peter Riegelbauer erneut abgestimmt werden. So lautet das dürre Ergebnis der Philharmoniker-Chefdirigentenwahl am späten Montagabend. Man konnte sich nicht einigen, die interne Diskussion über die besten Kandidaten werde bis dahin weitergeführt, so der Kontrabassist, der am späten Abend vor die Presse tritt, gemeinsam mit Intendant Martin Hoffmann, Medienvorstand Stanley Dodds, seinem Orchestersprecher-Kollegen Ulrich Knörzer und Medienvorstand Olaf Maninger. Zwar wird von „guten und lebhaften Diskussionen“ berichtet, von einer konstruktiven und freundschaftlichen Stimmung. Aber nach mehreren Wahlgängen habe man sich leider auf keinen Dirigenten einigen können.
Das Verfahren und die Wahl zur Suche eines neuen Chefdirigenten müssten nun fortgesetzt werden. Das werde innerhalb eines Jahres geschehen. „Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir dann zu einem Ergebnis kommen“. Man werde sich Zeit nehmen - wie gesagt, es kann bis zu einem Jahr dauern.
Die Berliner Philharmoniker waren am Montag um 10 Uhr morgens an einem schönen Symbolort zusammengekommen: Im evangelischen Gemeindehaus in der Dahlemer Thielallee trafen sie sich, in eben jenem Raum also, der dem Orchester 1945 im zerbombten Berlin als erster Nachkriegs- Probenraum gedient hatte. Da ahnte noch keiner, was für eine Hängepartie es werden würde.
Die Presse wiederum wurde für 14 Uhr zur nahe gelegenen Jesus-Christus-Kirche bestellt. Der 1931 geweihte Backsteinbau ist auch als „Karajans Kathedrale“ bekannt, denn hier pflegte der Maestro in den sechziger und siebziger Jahren fast alle seine Schallplattenaufnahmen mit den Philharmonikern zu machen. Sogar die berühmte „Bohème“ mit Luciano Pavarotti entstand in dem Sakralbau mit der perfekten Akustik.
Heiter ist die Stimmung zunächst unter den Medienvertretern, die Temperaturen sind mild, Kinder toben über die Gänseblümchenwiese neben der Kirche, lila Flieder blüht, die Kastanie an der Ecke Hittorfstraße/Faradeyweg trägt prachtvolle Blütenkerzen. Auf den Stufen, die zum Haupteingang hinauf führen, ist ein Kreuz aus weißem Klebeband angebracht. Dort sollen später Peter Riegelbauer und Ulrich Knörzer, die beiden Orchestervorstände, zusammen mit dem Intendanten Martin Hoffmann Aufstellung nehmen, um den Namen des künftigen künstlerischen Leiters zu verkünden. Ein Dutzend Kamerateams aus aller Welt hat die Gerätschaften aufgebaut, insgesamt sind rund 50 Journalisten vor der Jesus-Christus-Kirche versammelt.
Zunächst allerdings tritt nur eine Mitarbeiterin der Pressestelle des Orchesters vor die Wartenden. Sie erklärt, der nach einem geheimen Regelwerk ablaufende Wahlvorgang sei noch nicht abgeschlossen und die Presse müsse sich darum bitte bis 16 Uhr gedulden. Zeit also für einen kleinen Spaziergang durch die Dahlemer Idylle. Dann zurück zur Jesus-Christus- Kirche – und siehe da: Zwei Flugzeuge haben mit ihren Kondensstreifen ein riesiges wolkiges Kreuz in den Himmel gemalt. Wenn das kein Zeichen ist!
Doch leider taucht wieder nur die Pressefrau auf und vertröstet ein weiteres Mal. Unter den Journalisten geht das Rätselraten los: Gab es ungeahnte Pannen oder gar Absagen ist letzter Minute? Wie verhärtet sind die Fronten zwischen den konservativen Thielemann-Befürwortern und den zukunftsorientierten Nelsons-Fans? Welche Fraktion bat sich warum welche Bedenkzeiten aus? Wird es am Ende auf den allseits respektierten Kompromisskandidaten Chailly hinauslaufen?
Man kann nur spekulieren. Einerseits erwarten die Philharmoniker eine sofortige Zusage des Erwählten, sobald sie ihn anrufen, andererseits brauchten die Musiker wohl deutlich mehr Wahlgänge, um sich auf einen Kandidaten zu einigen, der die dabei geforderte „eindeutige Mehrheit“ auf sich zu vereinen mag.
Für Aufregung sorgt am späten Nachmittag eine Nachricht bei Twitter, die angeblich von der Hornistin Sarah Willis abgesetzt wurde. Sie verkündet den Sieg von Andris Nelsons bei der Abstimmung. Das Orchester lässt umgehend dementieren, die Homepage von Willis ist zeitweise nicht zu erreichen, der Account der Musikerin war zum Abseden der Ente wohl gehackt worden.
Um 17.30 Uhr wünschen die Arbeiter von der gegenüber liegenden Baustelle einen schönen Feierabend – und die Presse wartet weiter. Gegen 18.20 Uhr formiert sich ein Flashmob der Dahlemer Fans des Orchesters, die gerne dabei sein wollen, wenn der Name endlich fällt. Und die Presse wartet weiter. Auf den Steinmäuerchen vor der Kirche entspinnt sich manch fachkundiger Smalltalk zwischen den Philharmonie-Stammgästen und den zunehmend verzweifelteren professionellen Beobachtern.
Gegen 20 Uhr rollt ein Kleinbus vor – dem aber weder Orchestervorstand noch Intendant entsteigen, der aber immerhin eine Getränkespende der Philharmoniker an die Wartenden enthält. Die hören inzwischen schon Stimmen: Pfeifen nicht die Spatzen den Namen des Neuen von den Dächern? „Cha-illy, Cha-illy?“
Von einem konkreten Zeitpunkt für die Bekanntgabe des neuen Chefs ist da längst keine Rede mehr. Im Falle eines Scheiterns aber, das hatten die Philharmoniker vorab angekündigt, wolle man man erst wieder im Herbst neu abstimmen.
Die Musiker bereiten sich schon seit zwei Jahren auf die Wahl eines neuen künstlerischen Leiters vor. Solange ist es her, dass Sir Simon bekannt gab, seinen Vertrag nicht über das Jahr 2018 hinaus verlängern zu wollen. Dass die Nachfolger-Wahl so schwer werden würde, ahnte damals keiner. Am Montag wurde sie offenbar zum battle after Rattle.
Alles über die Berliner Philharmoniker und ihre Wahl: www.tagesspiegel.de/berliner-philharmoniker
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