Handkes "Kaspar" am Berliner Ensemble: Einordnen und Einnorden
Sebastian Sommer inszeniert Peter Handkes frühes Stück „Kaspar“ am Berliner Ensemble. Intdenant Claus Peymann brachte 1968 in Frankfurt am Main die Uraufführung auf die Bühne des Theaters am Turm.
Der junge Mann, der sich zu Beginn aus lauter in- und übereinandergestapelten Holztischen herausschält, sieht wie ein leicht verspäteter Berlin-Mitte-Hipster aus. Mit Feinrippunterhemd zur Wollmütze tritt er im Pavillon des Berliner Ensembles seinen Sozialisationsprozess an. „Kaspar“ als Zeitgenosse: Was Regisseur Sebastian Sommer, der seine BE-Karriere als Regieassistent begann, hier klamottentechnisch lässig behauptet, wird sich intellektuell nicht ganz so unkompliziert einlösen. Denn die Gesellschaft, was Wunder, hat sich in den letzten 50 Jahren verändert.
Fast so lange ist es her, dass Peter Handke sein „Sprechfolterungs“-Stück über Kaspar Hauser schrieb. Sommers Chef, BE-Intendant Claus Peymann, der im Publikum sitzt, inszenierte 1968 die Uraufführung im Frankfurter Theater am Turm. Der Text zeige „nicht, wie es wirklich ist oder wirklich war“ mit dem legendären Findling, sondern zeige, „was möglich ist mit jemandem“, kommentierte Handke damals sein Stück. Kaspar betritt eingangs als gleichsam unbeschriebenes Blatt eine (Bühnen-)Welt, mit der er so wenig anzufangen weiß, dass er erst mal minutenlang in ihr ausrutscht. Dann schlägt die Stunde der „Einsager“, die Kaspar mittels Sprachdrill in die „Ordnung“ der Dinge und also des Denkens einweisen.
Die Merksätze, die diese graumäusigen Kollegen dem stolpernden und stotternden Individuum eintrichtern, reichen von schwer ideologieverdächtigen Phrasen-Perlen („Was du hast, das bist du“) bis zu schlichtester Lifestyle-Ratgeberprosa („Die Einrichtung soll dich ergänzen“) und kommen bei Handke vom Band. Bei Sebastian Sommer indes erheben die Einsager ihre Stimmen – eine zurzeit angesagte Regiemaßnahme – direkt aus unserer Mitte. Die BE-Schauspieler Claudia Burckhardt, Ursula Höpfner-Tabori, Boris Jacoby, Nadine Kiesewalter, Marko Schmidt und Thomas Wittmann haben sich unter die Zuschauer gemischt, die im Viereck um Johannes Schütz’ raumfüllende Holztisch-Installation sitzen, und agieren weniger bedrohlich als apart.
Da wird dem sichtlich schweißtreibend sich durchs Tischgebirge kämpfenden Kaspar (Jörg Thieme) gern mal solidarisch ein Wasserglas gereicht oder eine Kerze angezündet. Und wenn es gilt, das Bühnenbild in die proklamierte „Ordnung“ zu bringen und das Holztischgebirge zu einer langen Tafel zu arrangieren, an die zu guter Letzt auch ein Teil der Zuschauer gebeten wird, packen die „Einsager“ kräftig mit an.
Kurz: Sebastian Sommer deutet Kaspars Lernprozess, den Handke als Zurichtung beschreibt, ambivalenter. Sein textlich gestraffter 90-Minüter ist eine dynamische Sprechpartitur mit virtuos wechselnden Stimmgebern und Chor-Stärken. Dass sich für Regeln und gemeinschaftsbildende Prozesse neben dem negativen auch positives Potenzial eignen kann, wird hier abwechslungsreich vorgeführt. Gesellschaftsdiagnostisch allerdings bleibt der Abend überschaubar.
Der Versuch, die Disziplinierung in unsere Zeit weiterzudenken, fiel jedenfalls am kleinen Grazer Theater im Keller schon anno 1991 radikaler aus. Dort agierte Kaspar ohne Einsager mutterseelenallein unter Schaufensterpuppen und bewirkte sämtliche Zurichtungsmaßnahmen selbst. Christine Wahl
Wieder am Montag, 23.Februar, 19.30 Uhr, sowie am 2. März, 20 Uhr
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