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Das Leben ist ein kurzer steiler Pfad. Nicole Chevalier als Télaire und Annelie Sophie Mueller als Phébé in „Castor et Pollux“.
© Eventpress Hoensch

Barockoper: Einmal Unterwelt und zurück

Zu Jean-Philippe Rameaus 250. Todestag: Barrie Kosky inszeniert „Castor et Pollux“ an der Komischen Oper - so sinnlich und karg, wie es dieser Musik gebührt

In diesem Jahr gedenkt die Musikwelt der Todestage zweier Komponisten, die von Paris aus die Gattung Oper revolutioniert haben. Da ist zum einen Giacomo Meyerbeer, vor 150 Jahren gestorben, ein Berliner, ein Europäer avant la lettre, der das Beste aus den widerstreitenden nationalen Schulen zusammenklaubte und 1831 daraus die Grand Opéra schuf. Seine Form der fünfaktigen Spektakeloper, bei der sich die privaten Liebesgeschichten vor dem Hintergrund konkreter historischer Ereignisse entwickeln, prägte Generationen von Tonsetzern, nicht zuletzt Richard Wagner, der sein Musikdrama mit dem Ziel entwarf, den Konkurrenten zu überholen, ohne ihn einzuholen. In Berlin ist Meyerbeers Todestag am 2. Mai lautlos verstrichen, erst ab der kommenden Spielzeit will die Deutsche Oper Schlüsselwerke des Komponisten neu zur Diskussion stellen.

Der andere Jubilar mit Parisbezug – er ist ein echter Franzose – heißt Jean-Philippe Rameau. Der 1683 in Dijon Geborene hatte bereits sein halbes Leben lang als Organist, Cembalist und Musiktheoretiker gewirkt, bevor er sich entschloss, die Bühne zu erobern: Seine tragédies lyriques versetzten die Zuschauer in höchste Erregung, allen voran „Castor et Pollux“, die bewegende mythologische Geschichte von den unzertrennlichen Brüdern. Genau dieses Werk hat Barrie Kosky nun anlässlich von Rameaus 250. Todestag an die Komische Oper geholt, in einer eigenen Inszenierung, die ursprünglich für die English National Opera in London entstanden war.

Ein hochdramatisches Lehrstück ist zu entdecken. Und eine Musik, die so gar nichts gemein hat mit der Barockoper, wie man sie von den Italienern oder von Georg Friedrich Händel kennt. Da gibt es keine Bravournummern für Kastraten und Primadonnen, da reiht sich nicht eine Arie an die nächste, da gibt es keine orchestralen Showeffekte.

Gedanklich steht Jean-Philippe Rameau dem Erfinder der Oper, Claudio Monteverdi, viel näher als seinen Zeitgenossen. Im Bestreben, das altgriechische Theater wiederzubeleben, hatte Monteverdi das recitar cantando entwickelt, das „singende Sprechen“. Während in den Libretti von Händel und Co. die Handlung in Rezitative aufgespalten wird, die die Story vorantreiben, und in Gesangsnummern, bei denen die Protagonisten Seelenschau betreiben, lässt der Franzose dem Drama seinen natürlichen Lauf. Er passt die musikalischen Ausdrucksformen dem Sprachfluss an und nicht umgekehrt.

Agieren dabei Darsteller auf der Bühne, die sich mit Leib und Stimmband der Tragödie hingeben, wie am Sonntag bei der umjubelten Premiere an der Komischen Oper, dann stellt sich beim Zuhörer tatsächlich jenes rare Gefühl ein: dass die Figuren gar nicht anders können, als ihre extremen Emotionen in außergewöhnliche Töne zu kleiden.

Die Geschichte, die in „Castor et Pollux“ erzählt wird, ist heillos, von Anfang an: Phébé liebt Castor. Der aber ist ihrer Schwester Télaire verfallen. Diese erwidert zwar Castors Gefühle, soll aber dessen Bruder Pollux heiraten. Die eifersüchtige Phébé zettelt eine Intrige an, bei der Castor zu Tode kommt. Pollux beschließt, den Bruder aus der Unterwelt zurückzuholen, selbst wenn er dafür selber dort zurückbleiben muss. Was beide Frauen zur Verzweiflung treibt. Jupiter höchstselbst löst den Handlungsknoten schließlich, indem er Castor und Pollux als Sterne zu sich in den Himmel holt: ein leuchtendes Beispiel für treue Freundschaft.

Sinnlich und karg zugleich, wie Rameaus Musik, legt Barrie Kosky seine Inszenierung an. Von Katrin Lea Tag hat er sich als Spielort eine Holzkiste bauen lassen, deren Neigungswinkel augenfällig macht, auf welch gefährlichem Grund sich die handelnden Personen bewegen. Einen Ausgang hat dieser Spielraum nicht, lediglich die als Ascheberg dargestellte Unterwelt kann Menschen verschlingen oder ausspucken. So neutral wie möglich sind die Kostüme, auf Requisiten wird fast vollständig verzichtet, weil Kosky die Überzeitlichkeit des Konflikts hervorheben will.

Nicole Chevalier und Annelie Sophie Müller sind die liebenden Frauen, Allan Clayton und Günter Papendell die Brüder, dazu kommen Aco Aleksander Biscevic als putziger Mercure sowie Alexey Antonov, der als Göttervater ein schwarzes Tuch vorm Gesicht trägt, um das Elend der Sterblichen nicht mitansehen zu müssen. Und natürlich der Chor, der bei Rameau viel differenzierter eingesetzt wird als in italienischen Barockopern und der in Koskys Deutung zudem die vielen, für die französische Tradition typischen Tanzeinlagen bildstark gestaltet.

Anhänger der Alte-Musik-Bewegung mögen bemängeln, dass die in der Originalsprache singenden Solisten nicht alle Nuancen der gattungsspezifischen Verzierungskunst auszureizen im Stande sind, dass auch das Orchester trotz der Verwendung von Barockbögen und ventillosen Trompeten interpretatorisch das letzte Quäntchen dessen schuldig bleibt, was im Rahmen der historisch informierten Aufführungspraxis heute möglich ist. Weil „Castor et Pollux“ aber nicht bei einem Spezialistenfestival gespielt wird, sondern in Deutschlands bestem Stadttheater, zählt hier in erster Linie der Wille. Der Wille, Randrepertoire anzubieten, das den Hörhorizont der Besucher erweitert.

Wie sich die Musiker von Christian Curnyn zu einem lebendigen, scharf rhythmisierten Spiel animieren lassen, wie sie den starken Puls dieser Partitur spürbar machen, wie die Sänger Barrie Koskys rasantes Körpertheater umsetzen, gegen Wände prallen, über den Boden rollen, auf schmalem Grat wandeln und sich mutig in Abgründe stürzen, das ist wahrlich beachtlich, packend – und Musiktheater im besten Felsenstein’ schen Sinne.

Weitere Aufführungen am 15. und 30. Mai sowie am 6. Juni und 12. Juli.

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