Kultur: Eines Abends, spät, in der Zukunft
Das Endspiel weiterspielen: der Ire Samuel Beckett und seine ewig scheiternden Figuren
Als Samuel Beckett am Karfreitag, dem 13. April vor hundert Jahren, die „Nacht der Welt“ erblickte, wie er es nannte, schien schon das pure Datum der Grundstoff für eine Legende. Weil nämlich das Geburtsregister von Foxrock bei Dublin den 13. Mai nennt. Doch dies war ein Schreibfehler, sonst hätten die Geburtsanzeigen der „Irish Times“ nicht schon am 16. April das Erdenleben von Samuel Barclay Beckett vermelden können. Dass ausgerechnet der Dichter des „Endspiels“ an einem Karfreitag, den 13. geboren wurde, bedeutet eine Pointe, aber keine Stilisierung. Alles ist nur, wie es ist: „Comment c’est“, sagt Beckett.
Dennoch hat er auf das zufällige Datum seiner Geburt – wenn diese selbst schon nicht zu verhindern war – als irischer Protestant, als gläubiger Atheist immer Wert gelegt. Gleich in der ersten Szene seines Jahrtausendstücks „Warten auf Godot“ bringt Wladimir, ein intellektueller Vagabund, das Karfreitagsgeschehen ins Spiel; er erzählt seinem Wartegenossen Estragon, der in der Urfassung des „Godot“ Levy hieß, von den beiden Schächern am Kreuz. Einer sei erlöst worden. Ein guter Prozentsatz. Allerdings berichte nur einer der vier Evangelisten von dieser hoffnungsvollen Oster-Quote.
„Landstraße. Ein Baum. Abend“ lautet die Regieanweisung dieses seit „Hamlet“ wohl berühmtesten Theaterstücks der Welt. „Was für ein Baum?“, war George Taboris einzige Frage an Beckett, als sie sich1984 in Paris für zwei Stunden trafen, bevor Tabori in den Münchner Kammerspielen mit Peter Lühr und Thomas Holtzmann in den Rollen der nie zu erlösenden Wartenden „Godot“ inszenierte.
Beckett soll gelächelt haben, das hatte man ihn noch nie gefragt. Und natürlich gab er so wenig Antwort wie auf irgendeine sonst je gestellte Frage zu seinem Werk. Dafür gab es bei Tabori dann auch keinen Baum und keine „Landstraße“ mehr, sondern nur noch einen offenen Theaterraum und reines Spiel– das war eine so insistente Version von „Godot“, dass sie sogar Becketts eigene Inszenierung 1975 im Berliner Schillertheater (mit Horst Bollmann und Stefan Wigger) überstrahlte. Nun, mit fast 92 Jahren, zeigt Tabori eine weitere „Godot“-Fassung im Berliner Ensemble, auch am morgigen Karfreitag. Er nennt „das Stück die erste wirklich religiöse Farce; es formuliert unseren Sinn für Tragik neu, indem es den Fall von der Höhe durch das Fallen der Hosen ersetzt“.
Das hat 1953 bei Roger Blins „Godot“Uraufführung in einem Pariser Kleintheater mit dem schönen Namen Babylone schockiert, verblüfft – und sofort elektrisiert. Denn noch nie seit Shakespeare erschien das Clowneske so existenziell, das Leben als Wartespiel so konkret und zugleich unergründlich geheimnisvoll; noch nie hatte sich sarkastischer Witz derart in philosophischer Poesie formuliert. Ein Sklave heißt Lucky, und sein erblindender Herr sagt über die Menschen: „Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht.“
Mit „Godot“, das zahllose Theater erst abgelehnt hatten, wurde Beckett tatsächlich über Nacht berühmt. Ab diesem Welterfolg las man auch die in Kleinauflagen publizierte Prosa des bis dahin nur einigen Kennern und Freunden vertrauten Unbekannten mit neuen Augen, insbesondere die Romane „Murphy“ (1935 Englisch begonnen, 1947 auf Französisch erschienen), „Molloy“ und „Malone stirbt“ (beide 1951). Das ist das eine. Doch mit „Godot“ war alles Lesen, Schreiben, alles literarische, dramatische, zeitgenössische Denken buchstäblich ein Stück weit verändert. Die geistige Welt ist seit Beckett nicht mehr dieselbe wie zuvor. Eine solche Zäsur durch die Literatur verbindet sich im 20. Jahrhundert sonst nur noch mit dem Namen Kafkas. Selbst von Marcel Proust, Thomas Mann, James Joyce oder Brecht und Borges lässt sich direkt Vergleichbares nicht sagen. Sie haben das literarische Universum fabulös erweitert. Kafka und Beckett aber haben es jäh verdichtet und damit einen neuen Begriff des Schreibens, Spielens, Lesens (oder auch: Lebens) geprägt.
Wie in Ionescos fast zeitgleich entstandenem Durchbruchsstück „Die kahle Sängerin“ tritt in „Godot“ die Titelfigur nie auf. Um die Herkunft des Namens ranken sich unzählige Spekulationen und Legenden. Ob Gott oder Gangster, ein besonders langsamer Radrennfahrer oder der Patron einer Pariser Hurenstraße, Beckett hat alle Mutmaßungen verneint. Und die hübscheste Anekdote spielt ein paar Jahre nach der Uraufführung: Beckett habe im Flugzeug von Paris nach London gesessen, da habe über den Bordlautsprecher „Kapitän Godot“ die Passagiere willkommen geheißen. Worauf Beckett am liebsten aus dem Flieger gesprungen wäre, weil er sein Leben keinem Mann dieses Namens anvertrauen wollte.
Wladimir und Estragon, die unter Schmerzen und Scherzen Wartenden, sind zugleich Flüchtlinge und ein Paar, in dem sich Erfahrungen Becketts und seiner Frau Suzanne als verfolgte Mitglieder der Résistance in Südfrankreich während des Weltkrieges spielerisch spiegeln. Das war schon zu Lebzeiten des diskreten Dichters keine Enthüllung mehr. Becketts wahres Geheimnis ist bis heute freilich der Geniesprung um die Jahreswende 1948 / 49, als er in knapp vier Monaten „En attendant Godot“ in seiner Wahlsprache Französisch verfasste. Unmittelbar davor hatte er gerade sein erstes, nach dem Erfolg von „Godot“ unter Verschluss gehaltenes Theaterstück „Eleutheria“ („Freiheit“) geschrieben. Es wurde 1995, sechs Jahre nach Becketts Tod, gegen seinen letzten Willen als Buch veröffentlicht. Der bisher für Aufführungen gesperrte Text erweist sich als ein redselig umständliches Stück über einen verschrobenen Junggesellen, seine bürgerliche Pariser Familie und einen irgendwie bedeutungsvoll undurchsichtigen Glaser.
Der Junggeselle namens Victor Krap hat nur die „Freiheit“ zu sterben. Über solch konventionellen Symbolismus gelangt Beckett hier nicht hinaus – wenige Monate später schreibt er „Godot“: Theater und Literatur von einem anderen, neuen Stern. Niemand weiß, wie diese Talentexplosion nach innen, in den eigenen Weltraum der ins strahlendste Dunkel gesetzten Beckett-Figuren geschah. Es war nicht nur die Wendung ins Französische, seine konzentrierende, zur präzisesten und poetischsten Lakonie zwingende Zweitsprache. Denn auch „Eleutheria“ ist Französisch geschrieben. Eher wohl war es, neben der Erfahrung mit der Philosophie von Albert Camus (der sich Sisyphos als „glücklichen Menschen“ vorstellte), die Erleuchtung durch Bilder, die er statt zu Abbildern zu Inbildern machte: bei „Godot“ etwa die Wartenden in der Abenddämmerung, die Beckett auf Gemälden von Caspar David Friedrich liebte.
Der frühe Krap ist 10 Jahre später, 1958 im Monolog „Das letzte Band“, zum alten Krapp geworden, der einige sensuelle Momente der inneren Erleuchtung und jähen Erkenntnis memoriert: das „Dunkel“ nicht mehr als Drohung, sondern Befreiung – und in einer Liebes-Nacht auch als Hauch von Glück: „Nie erlebte ich solche Stille. Die Erde könnte unbewohnt sein.“ Der Einakter „Krapp’s Last Tape“ beginnt übrigens mit der Szenenanweisung: „Eines Abends, spät, in der Zukunft.“
Merkwürdigerweise existiert kaum ein Band mit Becketts Stimme. Der schlanke Ire mit dem Vogelkopf und dem schwarzdichten, später graustruppigen Haar war immer fotogen, war bis in die 70er Jahre ein Homme à femmes mit einigen diskreten Amouren (und der berühmten frühen Affäre mit der amerikanischen Kulturmillionärin Peggy Guggenheim). Doch außer vielen Fotos gibt es von ihm nur ein paar Filmbilder ohne Ton. Beckett, notorisch öffentlichkeitsscheu, erschien 1969 zur Nobelpreisverleihung so wenig wie zu Pressekonferenzen. Wer mit ihm sprach, durfte kein Band benutzen. So ist die kurze Aufnahme seiner von Whiskey, Zigarillos und Gauloises aufgerauten und zugleich irisch volltönenden Stimme bei einer Radioprobe, die sich jetzt in der Anthologie „Samuel Beckett. Wir sind Zauberer“ im Münchner Hörverlag findet, eine kleine Sensation (6 CDs, 49,95 €).
Am Karfreitag zerriss einst der große Vorhang im Tempel. Als Beckett kurz vor Weihnachten 1989 starb, war gerade der Eiserne Vorhang zerrissen. Dahinter, im Osten, hatte man ihn als Überschreiter aller Religion, Metaphysik und Ideologie lange verboten; erst 1987/88 konnte „Godot“ in der DDR gespielt werden. Beckett hat den Mythos von Sisyphos fortgeschrieben, mit der im real existierenden Optimismus berühmt-berüchtigten Wendung: „Scheitern. Immer besser scheitern.“ Oder: „ausgeträumt träumen“.
Diese Stimme klingt heute eher bestätigend und scheint vom fidelen Getöse des Kulturbetriebs zugleich übertönt zu werden. Becketts Texte aber tragen Titel wie „Aschenglut“ und ganz zuletzt „Worstward Ho“ – „Aufs Schlimmste zu“, „Stirrings still“ – „Immer noch nicht mehr“ und „Comment dire“ – „Was ist das Wort“. Hier geht im Ernst wenig drüber. Doch mit einem Lächeln, als standhafte Liebhaber der Apokalypse, dürfen wir das Endspiel weiterspielen.
Samuel Beckett wurde am Karfreitag 1906 in Foxrock bei Dublin geboren. 1937 übersiedelte er nach Paris , während des Kriegs flohen er und seine Frau Suzanne als Résistance-Mitglieder vor den Nazis nach Roussillon. Wieder in Paris setzte er seine
Romantrilogie fort, die mit Murphy begann. Sein Theaterstück
Warten auf Godot wurde 1953 in Paris
uraufgeführt und machte den Dramatiker über Nacht welt-
berühmt; 1957 wurde
Endspiel uraufgeführt. Am 22. 12. 1989 starb der Literatur-Nobelpreisträger in Paris.
Zum Jubiläum zeigt die Berliner Akademie der Künste heute nochmals die „Endspiel“-Inszenierung des bat-Studio-
theaters (19 Uhr).
George Taboris
Inszenierung von
„Godot“ wird morgen
im Berliner Ensemble gespielt (19 Uhr 30).
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