„Trompe l’amour“ an der Berliner Volksbühne: Einer geht noch
Der Star als Regisseur: Martin Wuttke inszeniert „Trompe l’amour“ und beschließt die Balzac-Trilogie an der Berliner Volksbühne.
Unvergessen, wie Martin Wuttke zum Saisonstart an der Volksbühne im Damenkostüm einen Heißluftballon umtänzelte! Nach diesem choreografischen Großereignis – dem unangefochtenen Höhepunkt in René Polleschs Balzac-Variation „Glanz und Elend der Kurtisanen“ – muss die Geschichte des Pas de deux definitiv neu geschrieben werden!
Die Latte liegt also selbstmörderisch hoch, wenn Pollesch-Hauptdarsteller Martin Wuttke sich unter dem Motto „Trompe l’amour“ denselben Balzac-Stoff nun noch einmal als Regisseur vornimmt. Auch wenn Pollesch, den das knapp 700-seitige Romankonvolut damals weniger als Storylieferant denn als Vehikel für seinen luziden Feldzug wider den verbreiteten Innerlichkeitskitsch interessierte, zweifellos genug Inszenierungsfleisch übrig gelassen hat.
Der Plot in aller Kürze: In „Glanz und Elend der Kurtisanen“ treffen wir auf den Dichter Lucien und seinen genialisch-kriminellen Strippenzieher, den entflohenen Bagnosträfling Jacques Collin. Letzterer – in tiefer Liebe zu seinem Schützling entbrannt – hat die Kurtisane Esther heimlich in einem Kloster erziehen lassen und ihr eine Nobelwohnung eingerichtet, in der sie sich mit Lucien trifft. Allerdings verliebt sich auch der finanziell potente Baron von Nucingen in die Ex-Kurtisane und scheut keine monetäre Mühe, sie wiederzusehen. Der Plan, den altersgeilen Baron hinzuhalten und dabei gewaltige Summen aus ihm herauszupressen, läuft allerdings aus dem Ruder: Esther bringt sich um; Lucien später im Gefängnis ebenfalls.
Dass neben dem Pollesch-Abend noch eine weitere saisonale Großhypothek auf Wuttkes Regie-Job lastet, macht ihn nicht einfacher. Volksbühnen-Chef Frank Castorf selbst hat mit „La Cousine Bette“ kürzlich ebenfalls eine Balzac-Inszenierung herausgebracht, die dem globalen Rezensenten-Echo zufolge zu den gelungensten Castorfs der letzten Jahre gehört.
Schauspieler-Regisseur Martin Wuttke: Akute Doppelbelastung
Natürlich hatte sich Schauspieler-Regisseur Wuttke fürs Finale dieser hauseigenen Balzac-Trilogie auch als zentralen Darsteller vorgesehen. Auf den letzten Metern vor der Premiere allerdings – so heißt es aus der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz – sei er wegen akuter Doppelbelastung als Bühnenakteur ausgestiegen und habe seinen Part dem Mitspieler Jean Chaize überlassen. Gut informierte Kollegen wollen aus der Gerüchteküche vernommen haben, dass der Intendant selbst hinter dieser Entscheidung steckt und rettend in die Endprobenphase eingegriffen haben soll.
Wie dem auch sei: Ein bisschen nach Castorf sahen Martin Wuttkes Inszenierungen schon immer aus. Selbst, wenn sie am Berliner Ensemble herauskamen – wie zum Beispiel der Ernst-Jünger-Abend „Das abenteuerliche Herz – Droge und Rausch“ vor fünf Jahren. In der Tat muss man sich „Trompe l’amour“ wie eine Kreuzung aus den beiden Vorgänger-Balzacs des Hauses vorstellen. Die Akteure verschwinden gern in einer riesigen historisierenden Kutsche, aus deren Innerem das Geschehen genau wie bei Castorf großflächig auf Leinwände übertragen wird; diesmal sogar stolze drei. Von der Pollesch-Inszenierung wiederum stammt nicht nur das Grundsetting – Bert Neumanns bühnenumspannender Lametta-Vorhang –, sondern auch der Gestus, in dem etwa die Münchner Resi-Gastspielerin Britta Hammelstein über Körper, ihre Warenwerte und das Kapital an sich philosophiert.
Begehren, Wert und Simulacrum
Natürlich verzichtet auch Wuttke auf den an der Volksbühne dankenswerterweise verpönten Romannacherzählungsstil und inszeniert unter offensivem Verzicht auf lineare Plotmuster eher an zentralen Motiven entlang. „Begehren, Wert und Simulacrum ist ein Dreieck, das uns beherrscht“, spricht Hendrik Arnst als Nucingen im angemessen halbseidenen Pelzjäckchen gleich zu Beginn einen in diesem Kosmos weithin anschlussfähigen Foucault-Satz. Und so werden Begehren, Wert und Simulacrum in den folgenden zwei Stunden denn auch bis zum (Beliebigkeits-)Exzess getrieben, zumal sich als weiteres zentrales Motiv auch der Doppelgänger empfiehlt, der hier gern in eine Art multiple Rollenöffnung hineingeführt wird.
Bisweilen kommt es dabei auf den Leinwänden, die illuster von schwarz-weiß zu bunt und von historischen zu zeitgenössischen Backgrounds wechseln, zu ebenso hübschen wie sinnfreien Effekten. Etwa wenn Jasna Fritzi Bauer, die sonst an der Wiener Burg spielt, als Esther zwischen Maximilian Brauer und Franz Beil als gleichsam verdoppeltem Begehren hin und her springt. Das war’s dann aber auch; in die Volksbühnen-Annalen wird dieser Abend eher nicht eingehen.
Wieder am 27. 4. und 2. 5., 19.30 Uhr