"Endstation Sehnsucht" am BE: Eine schrecklich schräge Familie
Facettenreich und luzide: Dramen-Skeletteur Michael Thalheimer inszeniert „Endstation Sehnsucht“ im Berliner Ensemble.
„Ich will keinen Realismus“, ruft Blanche DuBois mit einer analytischen Klarheit über die Rampe des Berliner Ensembles, die man ihr auf den ersten Blick gar nicht zutraut. Und schiebt nicht minder geistesgegenwärtig nach: „Ich will Zauber!“ Tatsächlich benennt diese fragile Erscheinung, die da im weißen Retro-Kleid auf buchstäblich abschüssigen Pfaden unterwegs ist, hier denkbar luzide ihr zentrales Problem.
Eigentlich Lehrerin für englische Literatur und generell mit einem schwer zu befriedigenden Hang zum Höheren ausgestattet, haust Blanche nämlich de facto in einer tristen Zwei-Zimmer-Kaschemme, die realistisch zu nennen fast ein Euphemismus ist. Und die ihr – das kommt verschärfend hinzu – nicht einmal gehört.
Blanche ist im französischen Viertel von New Orleans bei ihrer Schwester Stella untergekrochen. Die führt mit dem polnischen Immigranten Stanley Kowalski ein erotisch sichtlich befriedigendes und ansonsten eher pragmatisches Leben. Kein Zauber, nirgends also für leicht ätherische Schöngeister wie Blanche. Als der prollige Schwager auch noch anfängt, in ihrer Vergangenheit herumzuwühlen und ein imageschädigendes Detail nach dem nächsten zutage zu fördert, geht es für sie immer steiler bergab auf der Realo-Piste.
Der Stoff ist eine ungewöhnliche Wahl für Thalheimer
Blanche – so plaudert Stanley Kowalski genüsslich aus – hat sich mitnichten aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend beurlauben lassen, wie sie es seit ihrer Ankunft steif und fest behauptet. Sondern sie ist ihren Pädagoginnen-Job schon vor langer Zeit losgeworden – wegen einer Affäre mit einem 17-jährigen Schüler. Der anschließende Abstieg in einem dubiosen Provinz-Hotel tat dann das Übrige, um Blanches nymphomanischen Borderlinerinnen-Ruf zu zementieren. Am Ende des Stückes wird man sie mutmaßlich in die Psychiatrie einliefern.
So weit Tennessee Williams’ Südstaaten-Drama „Endstation Sehnsucht“ von 1947. Doch auch wenn Marlon Brando, in der Kowalski-Rolle, erst am Broadway und anschließend in Elia Kazans Verfilmung zu Recht Weltruhm erlangte: Aus heutiger Sicht wirkt der Stoff leidlich schwülstig und mindestens feinstaubüberzogen. Für den Dramenskeletteur Michael Thalheimer, der seine größten Erfolge mit antiken oder klassischen Stücken von „Medea“ über „Faust“ bis zu „Emilia Galotti“ feierte, ist er sowieso eine ungewöhnliche Wahl. Er habe sich, gab der BE-Hausregisseur in Interviews denn auch freimütig zu Protokoll, damit entsprechend schwergetan. Es war sogar vom wiederholten Impuls die Rede, den Text in die nächstbeste Ecke zu pfeffern.
Das Szenario besteht aus einem überdimensionalen Kupfer-Massiv
Vom Resultat her betrachtet, muss man Thalheimer und seinem Ensemble dankbar sein, dass sich offenkundig immer mindestens einer fand, der ihn dort wieder hervorgeholt hat. Denn Fakt ist, dass die Reibungskräfte an diesem Abend so gut funktionieren wie lange nicht: Thalheimers szenischer Reduktionismus und seine inhaltsdestillierende Konzentration greifen hier wieder aufs Beste ineinander – in Kombination mit beglückender schauspielerischer Präzision.
Für die Darsteller hat Olaf Altmann eine seiner bühnentechnischen Extremherausforderungen gebaut: Das Szenario besteht aus einem überdimensionalen Kupfer-Massiv, in das weit oben – nicht besonders groß und zudem fast schon schwindelerregend schräg nach unten zulaufend – ein Spalt zum Spielen eingelassen ist. Aufrechter Gang bedeutet hier Höchstleistungssport. Schließlich kommt es schon einem Triumph gleich, sich auf dieser abschüssigen Rampe (namens Realkapitalismus und Sozialvereinzelungsgegenwart, wie im Programmheft nahelegt wird), überhaupt auf den Beinen zu halten.
Andreas Döhler vermeidet als Stanley die Gefahr der Milieu-Denunziation
Thalheimer kappt neben dem Südstaaten-Kolorit dankenswerterweise auch alles Melodramatische und entkernt den Stoff – Realkapitalismus hin oder her – im Wesentlichen zur facettenreichen Dreieckstragödie, bei der gemessen an gängigen „Endstations“-Inszenierungen tatsächlich jede Figur komplexitätstechnisch über sich hinauswächst. Sina Martens, amtierende Nachwuchsschauspielerin des Jahres, balanciert als Stella eine grandiose Loyalitäts- wie Gefühlszerreißprobe auf die Abschussrampe: zwischen der Schwester, deren Instabilität und Hilfsbedürftigkeit ihr immer verzweifelter klar werden, und ihrem Mann, der sich von diesem ätherischen Besuch mit den Fuchsschwänzen im Schrankkoffer (nicht zu unrecht) provoziert und erniedrigt fühlt.
Andreas Döhler wiederum vermeidet die Gefahr der Milieu-Denunziation , in der Stanley-Darsteller schauspielerisch oft umkommen, durch kluges Fokussieren auf genau diese Facette seines Underdog-Status’. Statt des beliebten Klischees einer irgendwie unkontrollierten animalischen Energie ist hier in jedem Moment die tiefe Ausgrenzungsverletzung am gewaltmotivierenden Werk.
Cordelia Wege spielt Blanche als hypersensible abdriftende Frau
Und BE-Gast Cordelia Wege turnt eine sensationelle Blanche auf die Schräge. Wie es ihr gelingt, dieser hysterieanfälligen Figur die gesammelten staubigen Textvorlagen-Zuschreibungen von der „gefallenen Frau“ auszutreiben, ist wirklich ein kleines Meisterwerk. Cordelia Wege zeichnet das Psychogramm einer hypersensiblen, aus Weltleiden in die Psychose driftenden und gewissermaßen zeitlosen Zeitgenossin, deren offen ausgelebtes Begehren nach wie vor ein derartiges gesellschaftliches Tabu ist, dass sie sich damit ständig in existenzielle Gefahr bringt.
Selten auch nahm man einer Blanche-Darstellerin die erotische Fixierung auf Mitch derart ab wie Wege, schließlich ist der Stanley-Kumpel weder Adonis- noch Einstein-verdächtig. Inszenierungen von „Endstation Sehnsucht“, die ihre Figuren im besten Sinne ambivalenter machen statt sie mehr oder weniger unter der Hand zu denunzieren, sind überhaupt eine Rarität. Das letzte Mal ist das vielleicht – auf völlig andere Art – Frank Castorf mit dem Volksbühnen-Ensemble in seiner Version „Endstation Amerika“ anno 2000 gelungen. So jedenfalls darf es gerne weitergehen mit Reeses Berliner Ensemble, das bislang eher hinter den hohen Erwartungen zurückgeblieben ist.
Wieder am 30. 4. und 1. 5., 19.30 Uhr
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