Die neuen Berlinale-Leiter: Eine sanfte Übergabe
Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek werden 2020 ihre erste Berlinale leiten. Jetzt haben sie erstmals über ihre Pläne gesprochen.
Tempelhofer Feld, Stadtmuseum oder Humboldt Forum? Viele Orte in der Stadt eignen sich, den 70. Geburtstag der Berlinale zu feiern, der im nächsten Februar ansteht. Das biblische Alter soll aber nicht erst dann zelebriert werden, wenn der Eröffnungsfilm über die Leinwand des Berlinale-Palastes läuft, sondern schon deutlich vorher. Das kündigen die designierten neuen Festivalchefs, Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der künstlerische Leiter Carlo Chatrian, bei einem Gespräch am Potsdamer Platz an. Offiziell übernehmen sie die Leitung des Festivals zwar erst im Juni, aber der sanfte Übergang läuft schon. Gerade haben sie ihre neuen Büros bezogen. DieVorgespräche fürs Jubiläum sind schon eine Weile im Gang. Schließlich wollen die Feierlichkeiten mit Erinnerungen an die Wurzeln des Festivals im Kalten Krieg gut vorbereitet sein.
Schon die letzte Berlinale haben die beiden genutzt, um gründlich hinter die Kulissen zu blicken und sich mit den Riten des Festivals vertraut zu machen. „Ich habe viel Neues entdeckt“, sagt Mariette Rissenbeek. Und Carlo Chatrian ergänzt, dass er zwar seit 2003 schon Stammgast sei: „Aber die vielen Spielorte abseits des Potsdamer Platzes habe ich zum ersten Mal bewusst erkundet.“
Der ehemalige Festivalchef von Locarno hat gerade sieben Mitglieder in sein Auswahlkomitee berufen. Den Vorsitz übernimmt der künftige Programmleiter Mark Peranson. Der Autor und Filmemacher aus Toronto war von 2013 bis 2018 Programmleiter in Locarno. Ebenfalls aus der Auswahlkommission von Locarno stoßen Lorenzo Esposito und Aurélie Godet dazu. Außerdem wurde Sergio Fant, der in Deutschland lebt und in Locarno als Programmer tätig war, berufen. Die ehemalige Programmleiterin der Sektion Panorama, Paz Lazaro, die Kinobetreiberin Verena von Stackelberg und die Osteuropa-Filmexpertin von der Humboldt-Universität, Barbara Wurm, gehören ebenfalls dem verkleinerten Auswahlkomitee an. Die Panorama-Leitung übernimmt Michael Stütz, der bislang dort Programm-Manager war. Die Nachfolge der langjährigen Leiterin der Berlinale Shorts, Maike Mia Höhne, tritt Anna Henckel-Donnersmarck an.
Nicht alle schauen die Filme nur zum Vergnügen
Carlo Chatrian lächelt auf die Frage, ob Berlin eine solche Herausforderung darstellt, dass er gleich vier Vertraute mitbringt. „Sie kennen mich, und ich kenne sie. Wir haben gemeinsame Visionen. Das wird am Anfang vieles leichter machen“, sagt er pragmatisch. „Es ist auch gut, wenn es da eine internationale Besetzung gibt.“ Und schließlich seien auch eine Kinobetreiberin und eine ausgewiesene Kennerin des russischen Films dabei. Ob der Vater von drei Kindern noch mehr als bislang etwa sechs Monate im Jahr unterwegs sein wird auf der Jagd nach geeigneten Filmen, kann er noch nicht sagen: „Berlin ist eines der größten und wichtigsten Festivals weltweit. Da kommen auch viele Anfragen von Leuten, die gerne dabei sein wollen.“ Ohne schon ins Detail zu gehen, verrät Mariette Rissenbeek, dass sie bei der letzten Berlinale nicht nur vorhandene Sponsoren getroffen hat, die sich auch weiterhin engagieren wollen, sondern auch neue Anwärter. Als Geschäftsführerin will sie sich freilich nicht völlig auf das Thema Finanzen reduzieren lassen. „Wir werden eng als Team zusammenarbeiten“, sagt sie. Und Carlo Chatrian ergänzt: „Was ist Kunst ohne Geld? Nichts!“ Beide geben sich entschlossen, das Festival gemeinsam weiterzuentwickeln und eine eigene Richtung zu finden.
Ob es weniger Filme geben wird als bislang? „Auf jeden Fall wollen wir den großen Hunger auf Filme stillen, den es in Berlin gibt“, sagen die beiden übereinstimmend. Nicht umsonst sei die Berlinale das größte Publikumsfestival der Welt. Allerdings könne er sich vorstellen, dass man den professionellen Besuchern aus aller Welt noch mehr Orientierung bieten kann, dass gerade für diesen Kreis manches noch konzentrierter ablaufen könnte. „Die schauen die Filme ja nicht nur zum Vergnügen, wie viele Berliner.“
Eine großartige Festivalgeschichte
Eine offizielle Übergabe des Staffelstabs vom scheidenden Berlinale-Chef Dieter Kosslick wird es nicht mehr geben. Bei der Vorbereitung der letzten Berlinale haben sich beide noch bewusst sehr zurückgehalten. Von der ersten gemeinsamen Teestunde am Tag vor der Bekanntgabe ihrer Berufungen bis in die Erholungsphase nach dem Festivalstress erfolgt die Transformation aber, soweit die unterschiedlichen Temperamente das zulassen, offenbar reibungslos: „Wir haben uns oft getroffen und ausgetauscht.“ Dass die Berlinale im kommenden Jahr zwei Wochen später stattfindet als sonst, ist allerdings eine Herausforderung, die schon einige Gespräche mit Betroffenen erfordert hat – nicht nur im Hinblick auf das Theater am Potsdamer Platz, wo das Adagio im Keller einen neuen Betreiber bekommt. Sondern auch, was die dem Europäischen Filmmarkt folgenden Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau betrifft. Aber auch diese mit den Oscars zusammenhängenden Stolpersteine auf dem Weg in eine erfolgreiche Zukunft der Berlinale sind bereits in Angriff genommen und bewältigt worden.
Ob sie sich von bestimmten Reihen oder Sektionen verabschieden, wollen die beiden neuen Berlinale-Chefs noch nicht sagen. Den runden Geburtstag des Festivals wollen sie aber auf jeden Fall nutzen, um noch mehr Bewohner und Besucher der Stadt, die bislang keinen Kontakt hatten, mit dem Festival in Berührung zu bringen. Es geht ihnen auch darum, das Kino aus seinen traditionellen Orten herauszuführen. Egal ob Theater oder Underground-Kultur, bewegte Bilder seien, so Chatrian, allgegenwärtig und zu einem Ausdrucksmittel für viele Kunstformen geworden. Auch vor diesem Hintergrund wollen die beiden zu ihrem Start mit einigen Überraschungen „die großartige Festivalgeschichte feiern“.