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Die gute alte Zeit. Ursina Lardi (Lenin, mit Glatze) im Kreis der Revolutionäre.
© Thomas Aurin/Schaubühne

"Lenin" in der Schaubühne: Eine revolutionäre Leiche

100 Jahre Oktoberrevolution: Milo Rau macht an der Schaubühne mit „Lenin“ einen Kniefall.

Was macht der Mann nicht alles! Beim Theatertreffen war seine Inszenierung „Five easy pieces“ zu sehen, eine Art Reenactment der unvorstellbar schrecklichen belgischen Kindermordfälle, die mit dem Namen Dutroux verbunden sind. Auf dem Filmfest in Leipzig läuft demnächst „Das Kongo Tribunal“, eine Dokumentation des Bürgerkriegs in dem afrikanischen Land. Und ein „Weltparlament“ für globale Demokratie ruft der 40-jährige Schweizer nach Berlin zusammen. Zum Rahmenprogramm gehört ein „Sturm auf den Reichstag“ (am 7. November), der an den Sturm auf den Winterpalast in St. Petersburg vor 100 Jahren erinnern soll.

Milo Rau baut Geschichte nach. Das haben große Dramatiker immer getan, aber Rau geht semi-dokumentarisch oder auch pseudo-dokumentarisch vor. Sein „Lenin“ an der Schaubühne, ein zweistündiger Theaterabend mit Live-Kamera, dreht sich um die letzten Tage und Stunden des schwerkranken Revolutionsführers. Er siecht auf einem Landgut dahin, überfürsorglich bewacht von seinen Getreuen. Stalin, Trotzki und Lunatscharski schauen auch herein.

Das Ende eines mächtigen Mannes, einer Persönlichkeit der Weltgeschichte – das ist großes Kino. Milo Rau zieht das auch so auf – Vorspann und Abspann mit den Credits oben auf der Leinwand über der Drehbühne (Ausstattung: Anton Lukas und Silvie Nauhein). Da ist alles penibel nachempfunden. Lenins Bett, Wohnzimmer, Veranda, gemütliches Alt-Russland. Hier könnte man auch schön Tschechow spielen oder Turgenjew. Oder ein Frank-Castorf-Stück. Aber dafür ist bei Milo Rau alles zu sauber aufgeräumt und hingepinselt. Und wie brav sie sind, wie höflich sie miteinander umgehen, selbst wenn es mal ideologischen Streit gibt. Rau präsentiert nette, wohlerzogene Massenmörder – denn das waren die Stalins und Lenins im richtigen Leben.

Mitgefühl für das Monster

Die Stimmung erinnert ein wenig an den deutschen Führerbunker-Film „Der Untergang“. Da spielte Bruno Ganz einen gebrochenen Hitlergreis, ein Elendsbild, das aller Propaganda Hohn sprach. Auch damals, beim Abgang der Nazi-Größen, gab es das Mitleidsproblem. Und wenn man den von Schlaganfällen hingestreckten Lenin so emphatisch spielt wie Ursina Lardi, wenn eine Schauspielerin sich so sehr auf die Leidensrolle einlässt, dass sie ihren Hintern entblößt, damit der Doktor mit dem Fieberthermometer kommen kann, dann empfindet der Zuschauer vielleicht Scham, aber auch Mitgefühl. Ursina Lardis Lenin heischt Erbarmen. Es der Figur zu verwehren, ist fast unmöglich. Rau baut Geschichte zusammen – geschichtsvergessen. Es gibt nur den Moment, kein Davor, kein Danach.

Mit dieser Produktion ist die wunderbare Schauspielerin Nina Kunzendorf an die Schaubühne gekommen. Sie übernimmt die Krupskaja, Lenins Gefährtin. Auch mit viel Leid und Grauen und Verstummen im Gesicht.

Was wird das hier – Lenin am Lehniner Platz? Eine Totenmesse, zäh und betulich und auf furchtbare Weise harmlos? Sehnt sich Milo Rau nach einem starken Anführer der unterdrückten Massen? Mit Lenin war noch alles gut und in Bewegung, Trotzki war auch o. k., aber dann kommt dieser georgische Gauner Dschughaschwili und macht die gute und gerechte Sache kaputt? So ganz auf die Sterbestunden Lenins beschränkt, fehlt das Systemische, der monströse Sowjetapparat.

Das Mindeste, was über Milo Raus Theatergruft zu sagen ist: Vorsicht, Kitsch! Ein Sowjetfilm hätte diesen Personenkult nicht besser hinbekommen. Rau arbeitet ja nicht immer mit professionellen Schauspielern wie jetzt an der Schaubühne. Da zeigt sich der Unterschied zwischen Spielen und Nachspielen. Reenactment ist etwas anderes als acting, es ist ein anderer Ansatz. Eine historische Situation nachstellen, das ist noch lange kein Drama. Dazu gehören Haltung, Perspektive, Zusammenhang. Und Sprachmacht.

Das Berliner Ensemble zeigte „Blaue Pferde auf rotem Gras“, ein diskussionsfreudiges Lenin-Stück von Michail Schatrow. 1979, in der DDR! Und es gab Heiner Müller. Wir waren schon mal weiter.

Nächste Vorstellungen: 21., 23., 24. Oktober und 4. und 5. November

Rüdiger Schaper

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