Lévi-Strauss: Eine faulige Gärung namens Zivilisation
Die unmögliche Rettung des Naturzustands: zum Tod des Jahrhundertanthropologen Claude Lévi-Strauss
Als Zerstörer empfand sich Claude Lévi-Strauss bei seiner unfreiwilligen Rückkehr nach Amerika. Anfang der vierziger Jahre fuhr er mit dem Schiff von New York nach Brasilien, um noch einmal eine längere Expedition ins Innere des Landes zu unternehmen. In diesen Kriegsjahren war Lévi-Strauss ein Wanderer zwischen den Welten: Den soziologischen Lehrstuhl an der Universität von São Paolo hatte er 1938, nach nur vier Jahren, wieder aufgegeben, um sich auf die ethnologische Feldforschung am Amazonas zu konzentrieren. Der Kriegsdienst als Verbindungsoffizier zur britischen Armee führte ihn zurück nach Frankreich, das er in Folge der antisemitischen Gesetze der Vichy-Regierung 1941 wieder verließ. So emigrierte er nach New York, wo er im Jahr darauf eine Professur an der New School of Social Research erhielt.
An Bord befanden sich „mehrere Geschäftsleute, aber vor allem eine vollzählige Militärmission“ auf dem Weg nach Paraguay, die ihm die Überfahrt verdarben. In seinem berühmten Reisetagebuch „Die traurigen Tropen“ schildert er, wie sich die Offiziere auf das Leben in der Neuen Welt vorbereiteten: Sie übten die koloniale „Besetzung eines eroberten Landes“ und wiesen den zivilen Passagieren die Rolle von Eingeborenen zu. Lévi- Strauss beantwortete ihre „lärmende Unverschämtheit“ mit einem fatalistischen Blick auf die Destruktivität der eigenen Kultur. „Eine Gärung von zweifelhaftem Geruch“, schrieb er über die westliche Zivilisation, „verdirbt die Düfte der Tropen und die Frische der Lebewesen ... (Sie) verurteilt uns dazu, halb verfaulte Erinnerungen zu sammeln.“ Lévi-Strauss’ Bericht über die Indianer des Mato Grosso traf 1955 offenbar einen Nerv der Zeit, denn fortan war seine „strukturale Anthropologie“ in aller Munde.
Sein wissenschaftlicher Durchbruch lag damals schon einige Jahre zurück: 1949 hatte er die von Roman Jakobson für die Linguistik entwickelte Methode auf den anthropologischen Gegenstand der Verwandtschaftsformen angewendet und damit der Ethnologie einen neuen, strukturalistischen Weg gewiesen. In „Die Grundstrukturen der Verwandtschaft“ vertrat Lévi-Strauss die These, Verwandtschaftsformen seien nicht naturgegeben, sondern durch Heiratsregeln gestiftet. Er schlug vor, das Zusammenleben von Menschen nach dem Vorbild einer Sprache zu analysieren, deren Regeln für alle Gesellschaften gleichermaßen gälten. Am Ursprung aller politischen und ökonomischen Strukturen, zu denen er die Verwandtschaftssysteme zählte, stand für Lévi-Strauss der durch Heirat vollzogene Frauentausch – er schaffe Verbindlichkeiten, Verpflichtung und emotionale Nähe. Vor diesem Hintergrund erschien auch das Inzestverbot nicht mehr als natürliche Schranke.
Sicherlich besaßen seine überraschende Deutung des Inzesttabus als eines rein funktionalen Mittels zur gesellschaftlichen Vernetzung ebenso wie seine Gleichbehandlung primitiver und moderner Gesellschaften bereits jene philosophische Sprengkraft, die den Strukturalismus in den fünfziger Jahren zum Glaubensbekenntnis der antibürgerlichen Avantgarde werden ließ. Doch erst die literarische Darstellung der „Traurigen Tropen“ machte die Theorie Lévi-Strauss’ für ein breiteres Publikum attraktiv. So ungewöhnlich der von ihm angeschlagene Grundton schuldbewusster Melancholie für den ethnologischen Diskurs der damaligen Zeit war, so sehr prägte er das Lebensgefühl im Nachkriegs-Europa. Nicht wenige, die über den Schrecken des Zweiten Weltkriegs an der westlichen Zivilisation verzweifelten, richteten den Blick auf die vom Aussterben bedrohten „primitiven“ Völker. Zu den eskapistischen Motiven seiner Berufswahl hat sich Lévi-Strauss in den „Traurigen Tropen“ offen bekannt, doch die Flucht vor der Moderne und die Rettung eines glücklicheren „Naturzustands“ erwiesen sich selbst in den brasilianischen Urwäldern längst als unmöglich: 1960 konstatiert der Ethnologe resigniert, dass seit der Jahrhundertwende fast 90 Indianerstämme verschwunden, rund 15 indigene Sprachen untergegangen waren.
Lévi-Strauss kam wie viele bedeutende Vertreter seines Fachs über Umwege zur Ethnologie. Am 28. November 1908 als Sohn eines Malers in Brüssel geboren, besuchte er in Versailles, wo sein Großvater Rabbiner war, und in Paris das Gymnasium. Das Studium der Philosophie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Sorbonne schloss er 1931 mit einem juristischen Examen, dem Doktortitel und der Lehrbefugnis für Philosophie ab.
In den zwei Jahren, die Lévi-Strauss als Gymnasiallehrer an Provinzgymnasien unterrichtete, lernte er den Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty sowie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, die beiden Ikonen des französischen Existenzialismus, kennen. Während er Motive von Merleau-Ponty in „Das wilde Denken“, seine 1962 veröffentlichte Analyse des Totemismus, aufnahm, zerbrach die Freundschaft zu Sartre und Beauvoir. Sartres fortschrittsgläubige Geschichtsphilosophie beantwortete der Strukturalismus mit seiner eigenen düsteren „Dialektik der Aufklärung“, gegen die Freiheit des subjektiven Bewusstseins setzte Lévi-Strauss die unbewusste Sprachstruktur des Geistes.
Die Philosophie trainiere die Intelligenz, lasse aber den Geist austrocknen – angesichts solcher Geringschätzung muss man sich wundern, wie nachhaltig Lévi-Strauss’ Werk die ungeliebte Wissenschaft beeinflusst hat. Der sogenannte linguistic turn, die Abkehr von dem seit Descartes gültigen Paradigma der Subjektphilosophie, stand in Frankreich ganz im Zeichen des Strukturalismus. Von seinem Lehrstuhl für Sozialanthropologie am Collège de France aus, den er 1959 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1982 innehatte, predigte Lévi-Strauss jene Dezentrierung des Denkens, in deren Namen die nachfolgende Philosophengeneration mit der Vernunft und der Moderne insgesamt aufräumen wollte.
Der 1974 in die Académie Française aufgenommene Ethnologe aber ließ sich von dem intellektuellen Erdbeben, das sein Werk auslöste, wenig beeindrucken. So legt auch sein in den Jahren 1964 bis 1971 erschienenes Hauptwerk, die vierbändigen „Mythologiques“, Zeugnis davon ab, dass Lévi-Strauss bei aller Kritik an der westlichen Moderne doch an deren Vorstellung einer universalen Struktur des menschlichen Geistes festhielt. 20 Jahre lang sichtete er 813 Mythen nord- und südamerikanischer Indianer, um nachweisen zu können, dass ihnen allen ein einziger Mythos zugrunde liege. Doch die „Pflicht, alles einzusammeln“, beinhaltete für Lévi-Strauss immer zugleich die Zurückhaltung, diesen Kulturen ihre Fremdheit zu bewahren. In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist dieser Pionier des anthropologischen Denkens, der zu seinem 100. Geburtstag vor einem knappen Jahr noch weltweit gefeiert wurde, nun in Paris gestorben.
Bettina Engels
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