Anna Calvi: Einatmen, ausatmen: Neues Album von Anna Calvi
Glamouröse Düsternis: Die britische Musikerin Anna Calvi und ihr meisterhaftes zweites Album „One Breath“.
Das Herz schlägt bis zum Hals. Bumm- bumm, bumm-bumm pulst der E-Gitarrenton, darunter wimmert ein Keyboardakkord, eine Frauenstimme erklingt. Mehr in sich hinein als für einen Zuhörer singt sie: „I have one breath to give/ I have one second to live/ Before I say what I’ve got to say“. Nachdem sie gesagt hat, was sie sagen muss, wird sich alles verändern. Geht es um ein Liebesgeständnis? Oder will sie sich trennen? Ist sie vielleicht fremdgegangen?
Die Sängerin verrät es nicht. Dafür steigert eine tackernd herannahende Snaredrum die Spannung weiter, bis der Moment der Offenbarung endlich da ist: ein von der E-Gitarre dominierter Lärmausbruch. Vielleicht schreien sich die Frau und ihr Gegenüber jetzt an. Doch das Chaos herrscht nur wenige Sekunden – dann ist plötzlich alles gut. Gitarre und Stimme verstummen, ein Streicherarrangement verbreitet Sonnenuntergangsstimmung. In einem Film würde jetzt in Schnörkelschrift das Wort „Fin“ auf der Leinwand erscheinen und der Abspann beginnen.
„One Breath“ hat Anna Calvi den Titelsong ihres zweiten Albums genannt. Dass er eine geradezu filmische Wirkung entfaltet, ist kein Zufall. Die 33-jährige britische Musikerin legt ihre Stücke in der Art von Mini-Filmen an. Die Handlung zeichnet oder malt sie vor der Aufnahme. Meist geht es dramatisch zu. Blut, Schreie, enttäuschte Liebe – es wird großformatig gelitten in diesen elf intensiven Liedern. Dass sie unter anderem von Calvis eigenen Depressionserfahrungen inspiriert sind, wie die Sängerin dem Musikmagazin „New Musical Express“ sagte, glaubt man sofort. Und hofft angesichts eines zauberhaft-zärtlichen Stückes wie „Sing To Me“ oder des mantraartigen „Piece By Piece“, dass sie sich inzwischen davon befreien konnte.
Die Gitarre produziert Spezialeffekte
In den vergangenen beiden Jahren hat Anna Calvi eine erstaunliche Karriere gemacht. Ihr Debütalbum wurde für den Mercury Prize nominiert und verkaufte sich 170 000 Mal. Sie wurde mit PJ Harvey verglichen, Brian Eno sang auf zwei ihrer Lieder mit. Das alles lag nicht unbedingt nahe bei einem von Düsterromantik und Twanggitarren geprägten Sound, der sich schwer einem Genre zuordnen lässt. Das gilt auch für den eigenwilligen Songwriter-Post-Rock von „One Breath“. Wobei Calvi die Rolle ihrer Gitarre diesmal deutlich anders definiert. Spielte sie auf dem ersten Werk noch die Hauptrolle, ist sie diesmal vor allem für die Spezialeffekte zuständig. Sie darf kurz aufheulen wie in „Cry“ oder sich für einige Takte in rasenden Läufen über einen Bollerrhythmus erheben wie in „Eliza“.
Auch ein zerschossenes Solo ist mal drin, doch gleichzeitig bleibt unüberhörbar, dass die Bewunderin von Jimi Hendrix und Django Reinhardt sich inzwischen ebenso sehr für majestätische Orchesterarrangements interessiert wie für Gitarrensounds. Schließlich war auch die Geige ihr erstes Instrument. Im Alter von sechs Jahren begann sie zu spielen, sie hatte ihre Eltern angefleht, ihr ein Instrument zu besorgen. Später studierte Calvi an der Southampton University Gitarre und Violine.
Mit dem Singen hat die Tochter eines britisch-italienischen Psychotherapeuten-Ehepaares erst mit Mitte 20 begonnen. Sie schrieb schon jahrelang Songs, scheute aber davor zurück, sie selbst zu singen. Irgendwann beschloss sie, das Problem über harte Arbeit zu lösen. Calvi hörte Elvis, Édith Piaf, Nina Simone und Maria Callas, übte jeden Tag viele Stunden – und fand schließlich ihre Stimme. Auf „One Breath“ ist sie in ihrer ganzen Pracht zu erleben, von strahlendem „La-La“-Jubilieren über tiefblaues Gothic-Klagen bis hin zum Gespensterchor. Anna Calvi ist eine Ausnahmeerscheinung.
Anna Calvi: „One Breath“ ist bei Domino Records erschienen.
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