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Bollywood in Berlin. Die Roma-Familie von Colorado Velcu nimmt ein selbstkomponiertes Bollywood-Musikvideo an Berlins Sehenswürdigkeiten auf. Super-Clip! auf
© Khaled Abdulwahed/Forum

Berlinale: Filme zum Flüchtlingsthema: Ein Zelt überm Kopf

Fernab der Talkshows: In allen Sektionen der Berlinale laufen Beiträge zum Topthema dieser Tage. Besonders viele Flüchtlingsfilme zeigt das Forum.

Ab wann ist ein Mensch ein Flüchtling? Die Frauen sind mit ihren Kindern aus dem Dorf ins nächste Tal gezogen. Im Moment ist es zu gefährlich, zurückzukehren, die Armee kämpft in den Bergen. Sie haben nur das Nötigste mit, verdienen ein paar Yuan bei der Zuckerrohrernte, nachts reicht der Platz unter den Plastikplanen nicht, die Frauen schlafen im Sitzen. Die Detonationen kommen näher, sie ziehen wieder los, einen Schotterweg bergauf, es wird bald dunkel.

Ab wann ist ein Zelt ein Zelt, eine Notunterkunft eine Notunterkunft? Der chinesische Filmemacher Wang Bing ist mit der Kamera dabei, als die Ta’ang und zwei weitere ethnische Minderheiten an der chinesisch-burmesischen Grenze ihr Zuhause verlieren. Es sind 100 000, heißt es im Vorspann, Menschen, von denen man in Deutschland noch nie gehört hat. „Ta’ang“ ist einer von acht Filmen über Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten im Forum der Berlinale. Es gibt mehr in den anderen Sektionen, Filme über Lampedusa (Gianfranco Rosis „Fuocoammare“ im Wettbewerb) oder über einen Palästinenser in Berlin („Meteorstraße“, Perspektive Deutsches Kino). Sie waren lange vor Angela Merkels „Wir schaffen das“ in Arbeit.

Szene aus "Between Fences": Avi Mograbi veranstaltet mit einem Theaterregisseur einen Workshop für Geflüchtete in Israel. Der Staat verweigert ihnen den Asylstatus
Szene aus "Between Fences": Avi Mograbi veranstaltet mit einem Theaterregisseur einen Workshop für Geflüchtete in Israel. Der Staat verweigert ihnen den Asylstatus
© Forum

Das 21. Jahrhundert als Epoche der Völkerwanderungen: China, Israel, Libanon, Marokko, Spanien, Kanada, Berlin, das sind die Schauplätze. Viele Millionen sind unterwegs, Heimatlose wider Willen. Auf der Berlinale bekommt man eine Ahnung von der Dimension der globalen Fluchtbewegungen – die deutschen Probleme mit Kontingenten und Grenzen sind nichts dagegen. Zugleich sieht man Nahaufnahmen und lernt Einzelne unter diesen Millionen Zufluchtsuchenden ziemlich gut kennen.

Filme können Zeugnis abgeben und denen ein Gesicht geben, die nicht in den Flüchtlingskrisen-Talkshows sitzen – jenseits der Stimmungsmache, der Beunruhigung, Überforderung, Ratlosigkeit. Zeigen, was geschieht – etwa wenn der syrisch-armenische Regisseur Avo Kaprealian vom Balkon seiner Eltern aus filmt, wie der Bürgerkrieg den Alltag aus den Straßen Aleppos vertreibt. Was in „Houses Without Doors“ zu sehen ist, existiert heute nicht mehr.

Armenien, Syrien, die Völkerwanderungen setzen sich fort: In Beirut floriert ein weitgehend legaler, bürokratisch durchorganisierter Sklavinnenhandel mit Dienstmädchen aus Bangladesch oder Äthiopien für die Haushalte des libanesischen Bürgertums. Landesweit sind es 200 000 Arbeitsmigrantinnen, eine Gespensterarmee: In Maher Abi Samras „A Maid for Each“ bleiben sie unsichtbar. Kommentarlos folgt der Film dem Geschehen in einer Vermittlungsagentur; deren Chef über die Frauen verhandelt wie über Warenlieferungen. Die Grundrisse der bourgeoisen Wohnungen sehen fensterlose Zimmer für sie vor, vier Quadratmeter pro Schattenexistenz. Und die Kamera scannt die Häuserfassaden ab, schöne Anonymität der Großstadt.

Wer über den Zaun klettern will, riskiert sein Leben

Filme können Solidarität bekunden, die Imagination politisieren. „In your shoes“ – der englische Begriff für den Vorgang, sich in andere hineinzuversetzen – wird hier oft im Wortsinn umgesetzt: In „Between Fences“ veranstaltet Avi Mograbi mit einem Theaterregisseur einen Workshop für die in der israelischen Wüste internierten Asylsuchenden aus Eritrea und dem Sudan. Zu Hause von Verfolgung und Folter bedroht, verweigert Israel ihnen den Asylstatus und pfercht sie in Lager ein. Nicht leicht, den Rollentausch zu proben, wenn die Israelis den Part der schleichenden, rennenden Flüchtlinge übernehmen und die Afrikaner den der Grenzer und Bewacher.

In your shoes: Am Ende von „Les Sauteurs“ schafft der Malier Abou es endlich über die drei lebensgefährlichen Stacheldrahtzäune in die spanische Enklave Melilla, dank der Drahtstifte, mit denen er seine Sneakers präpariert hat. Hier die Infrarotbilder der Grenzüberwachung, dort Abous subjektiver Kamerablick auf seine Schuhe. Man freut sich mit ihm, als er und die anderen drüben sind, aller Illegalität zum Trotz. Beim letzten Versuch hatte es einen Toten gegeben.

Unsichtbar hinter bürgerlichen Fassaden: Die Schattenarmee der Hausmädchen aus Bangladesch oder Äthiopien in Beirut.
Unsichtbar hinter bürgerlichen Fassaden: Die Schattenarmee der Hausmädchen aus Bangladesch oder Äthiopien in Beirut.
© Forum

Abou hat sich von den Regisseuren Moritz Siebert und Estephan Wagner die Kamera geschnappt, als die auf dem marokkanischen Berg Gurugu den Alltag der „Sauteurs“, der „Springer“ drehen. Die Angst dominiert; das Camp, in dem eine Decke eine Kostbarkeit ist, wird häufig von der Polizei niedergebrannt. Die Afrikaner trainieren für den nächsten Kletterversuch, befragen den Marabou, hoffen auf Nebel, träumen von Europa als Paradies, in dem sie bei der Ankunft von schönen Frauen gewaschen werden. Und sie spielen Fußball, Mali gegen die Elfenbeinküste, mit Abou als Sportreporter.

Jugendliche in Lagern in Syrien und Irak filmen selbst: "Life on the Border"

Die Kamera weitergeben: In „Life on the Border“ sind die Regisseurinnen und Regisseure 13, 14 Jahre alt, sie leben in Lagern in Syrien, im Irak. „Ich zeige euch mein Leben“, sagen sie, erzählen und reinszenieren den Horror: die Heimatstadt zerbombt, die Eltern verschwunden, die kleine Schwester von IS-Milizen vergewaltigt – und der Junge Diar hat ein verbranntes Gesicht. Die Reihe Generation zeigt die Dokumentation in einer Sondervorführung, man wünscht sich alle Seehofers dieser Welt ins Publikum.

Im Abspann erläutern erwachsene Filmemacher den Jugendlichen in einem Schnellkurs das Handwerk. In „Les Sauteurs“ bleibt die Rolle der Filmemacher und ihres malischen Ko-Regisseurs unklar. Eine heikle Operation, ähnlich den Theaterstücken mit Flüchtlingen auf der Bühne, die es gut meinen, aber oft der Gefahr der Sensationsgier und des Voyeurismus nicht entgehen. Wie bringt man die eigene Perspektive ins Spiel, über die Betroffenheit hinaus? Filme können das herstellen: einen Raum für die Befragung der Bilder, jener schnellen, standardisierten Nachrichtenbilder, in denen Flüchtlinge wahlweise Opfer sind oder Täter. Der Berliner Regisseur Philip Scheffner, gleich doppelt im Forum vertreten, macht sich darüber schon lange Gedanken. Wie man sich mittels Filmen in ein Verhältnis zur Wirklichkeit setzt.

Touristen-Schnappschuss im Mittelmeer. „Havarie“ von Philip Scheffner.
Touristen-Schnappschuss im Mittelmeer. „Havarie“ von Philip Scheffner.
© Pong/Forum

Auch er gibt die Kamera weiter, legt die Verhältnisse aber offen. Sein Ko-Regisseur in „And-Ek Ghes“ ist der Roma Coloradu Velcu, der mit seinen Kindern in Berlin lebt, von 616 Euro Monatsverdienst. Eine Dokufiction in eigener Sache, über Ressentiments, Projektionen, Gegenbilder, die Bürokratie, die drei Monate braucht, bis zwei der Kinder zur Schule können, über Sehnsüchte und Fantasien. Velcu komponiert einen Bollywood-Song, sie drehen ein Musikvideo, der Sohn und die Kusine als schmachtendes Liebespaar am Brandenburger Tor, am Ku’damm, im Arsenalkino. Ein großer Spaß, wenn man den Film eben dort sieht! Die Großfamilie versammelt sich um den Laptop mit dem Rohschnitt, kommentiert, diskutiert, moniert, schaut sich selber beim Leben im Westen zu.

Philip Scheffners zweiter Forumsbeitrag „Havarie“ besteht aus einer einzigen auf Spielfilmlänge gedehnten Drei-MinutenAufnahme. Ein Tourist filmte ein Flüchtlingsboot im friedlichen Mittelmeer, vom Kreuzfahrtschiff aus. Auf der Tonspur lagern sich Erzählungen an, die Seenotrettung funkt, Boat People erinnern sich, auch der irische Handyvideo-Filmer, der als Wärter Erfahrung mit Überwachungsvideos hat.

Der Tourist auf dem Kreuzfahrtschiff, so sind wir. Aus sicherer Warte wollen wir, dass schnell jemand hilft, dass das unscharfe Bild scharf wird, mit deutlich identifizierbaren Flüchtlingen, und dass wir unsere Reise bald fortsetzen können.

Ein Inbild der Berlinale, schon jetzt. Irgendwann hält man das herrlich blaue Meer kaum noch aus.

Christiane Peitz

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