"The Pearl Button" auf der Berlinale: Ein Wunder, ein Massengrab
Politik und Poesie: „The Pearl Button“ ist die einzige Dokumentation, die im Wettbewerb läuft. Der Film von Patricio Guzmán besticht durch poetische Bilder - und ist eine Zumutung im besten Sinne.
Erst Guatemala in „Ixcanul“, jetzt Westpatagonien in „The Pearl Button“: Die Bilder vom Ende der Welt gehören zu den stärksten im diesjährigen Hauptprogramm der Berlinale. Beide Filme setzen gleichermaßen poetische und politische Sprengkraft frei und machen die übliche Unterscheidung von Realismus und Fiktion im Kino hinfällig. Hier die Lumières, dort Méliès, hier die furchterregende „Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Ciotat“, dort die fantastische „Reise zum Mond“ – so fing es an mit dem Film vor 120 Jahren. Seitdem werden sie gern gegeneinander ausgespielt. Aber wenn das Kino ganz bei sich ist, fallen Fakt und Fantasie, Dichtung und Wahrheit in eins.
Zumal in den Werken Patricio Guzmáns, dessen jüngster Essayfilm „El Botón de Nácar“ („The Pearl Button“) als einzige Dokumentation im Wettbewerb läuft. Der in Kuba, Spanien und Frankreich lebende Exil-Chilene wird nicht müde, die verdrängte Geschichte seines Landes und der Opfer von Pinochets Putsch ans Licht zu bringen und dabei zugleich die Schönheit seiner Heimat zu besingen. Guzmán, Jahrgang 1941, war 1973 selbst zwei Wochen im Stadion von Santiago mit dem Tode bedroht worden. Seitdem fahndet er nach den Verschwundenen, nach Spuren der Folteropfer und KZ-Insassen, der Gequälten und Ermordeten. In seinem letzten Film, „Nostalgia de la Luz“, fand er sie in der Atacama-Wüste im Norden Chiles, in der Angehörige mit bloßen Händen nach den Knochen ihrer Liebsten graben. Diesmal entdeckt er sie im Süden, im Meer, bei den Eiswüsten der Antarktis. Auch hier liegen Schönheit und Schrecken dicht beieinander.
Patricio Guzmán packt einen am Kragen
Guzmán ist ein weiser Filmemacher, ein Bilderpoet in der chilenischen Tradition der großen politischen Cantos. Und ein raffinierter dazu. Diesmal betört er den Zuschauer zunächst mit einer Ode über die Rätsel des Wassers, aus dem die Menschen, die Erde und der gesamte Kosmos zu großen Teilen bestehen. Er filmt die Dramatik der Brandung, die surreale Landschaft des patagonischen Insellabyrinths, das Ballett der Regentropfen, das Flirren des Lichts auf den Wellen. Er erkundet Eishöhlen, den Meeresgrund und die Wasservorkommen in fernen Galaxien. Der Soundtrack und seine warme, eindringliche Off-Stimme entfalten suggestive Wirkung.
Man lehnt sich also zurück und bestaunt die Natur. In diesem Moment packt Guzmán einen am Kragen. Erzählt von der Ausrottung der Wasservölker, zeigt historische Aufnahmen ihrer magischen Wassertänze und fantastischen Körperbemalungen, befragt Gabriela, Cristina und den Bootsbauer Martin, der einst mit seinem Vater in einer winzigen Nussschale Kap Hoorn umschiffte – die letzten Überlebenden ihrer Stämme. Sie sprechen ihre fast ausgestorbene Sprache, Guzmán fragt sie Wörter ab. Nein, Begriffe für Gott und für Polizei kannten die Indios nicht. Einst hatten die europäischen Eroberer ihnen ihre Religion und Zivilisation aufgezwungen, die meisten starben daran. Einer der Indios, die die Engländer mitnahmen, um sie in London zur Schau zu stellen, wurde Jemmy Button genannt. Sie hatten ihn mit ein paar Knöpfen gekauft.
Pinochets Armee ließ Leichen in den See werfen
Schließlich fand sich vor der Küste von Quintero ein weiterer Knopf tief unten im Meer, ein Perlmuttknopf an einer verrosteten Eisenbahnschiene, mit Korallen verwachsen. Der Knopf liegt heute im Museum, als einziges Überbleibsel jener 1400 Leichen, die Pinochets Armee aus Hubschraubern in die See werfen ließ. Minutiös rekonstruiert Guzmán das Verbrechen, mit einer Stoffpuppe, mit Plastik- und Kartoffelsäcken, Schiene und Draht. So, genau so wurden die Toten verpackt, transportiert und entsorgt. Das Meer ist ein Wunder, ein Massengrab ist es auch. Guzmáns Filme sind Zumutungen im allerbesten Sinne: Das Schimmern des verwitterten Knopfs gehört zu den Bildern der 65. Berlinale, die bleiben.
9. 2., 13 Uhr (Zoo-Palast) 18 Uhr (Friedrichstadtpalast), 15. 2., 10 Uhr (Haus der Berliner Festspiele)
Christiane Peitz