„Schwesterlein“ auf der Berlinale 2020: Ein Triumph von Hoss und Eidinger
Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds Berlinale-Beitrag ist hart, frech und bis in den Todeskampf hinein lebensvoll. Bärenkandidat(in)!
Ein jüdisches Sprichwort sagt, dass mit jedem sterbenden Menschen auch ein Stück Menschheit stirbt. Das gilt auch fürs Leben, Lieben, Leiden, Freuen. Und das Schicksal der Einzelnen, zumal von Künstlern, scheint seit den Eröffnungsfilmen diese 70. Berlinale zu prägen. Nach dem zu Dieter Kosslicks Zeiten (angeblich) „politischsten“ aller Kinofestivals: nunmehr unter Carlo Chatrians und Marietta Rissenbeeks Ägide das Arthouse- Festival der eher intimen Geschichten?
Ein berühmter Theaterschauspieler hat (bei einem Festival) die Diagnose Blutkrebs erfahren, im späten Stadium. Zu Anfang von Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds Wettbewerbsbeitrag „Schwesterlein“ ruht die bewusst etwas wacklige, den Puls- und Herzfrequenzen angepasste Kamera von Filip Zumbrunn nicht einfach auf dem mit Infusionsschläuchen ans Krankenhausbett gefesselten Körper des Schauspielers Sven (Lars Eidinger).
Sie fiebert kaum merklich mit. In der nächsten Einstellung sitzt Svens Zwillingsschwester Lisa (Nina Hoss) gleichfalls in der Klinik und spendet Blut für den Bruder. Als der Überlebenssaft durch die Kanüle in den dünnen Schlauch rinnt, beginnt sich dieser leicht zu bewegen. Wie eine rote Schlange.
Beides markiert eher unaufdringlich das Unabwendbare. Der Film wird dann viel härter, frecher, bis in den späten, frühen Todeskampf hinein viel lebensvoller. Kein Krankenhausmelodram.
Aber das große Gesellschaftsdrama wird „Schwesterlein“ dennoch nicht. Die beiden Schweizer Filmemacherinnen, die auch das Drehbuch mit bisweilen brillanten Dialogen geschrieben haben, bleiben bei einer Nahaufnahme, die sich auf ihre besondere Weise weitet: in Bilder zum Beispiel berückender Alpenlandschaften, in einen Himmelsflug mit dem Paraglider, der natürlich mit dem Daedalus-Motiv spielt und zum zwar vorhersehbaren, aber dramaturgisch klug gesetzten Fastabsturz wird.
Thomas Ostermeier als Selbstdarsteller
Lars Eidinger alias Sven will in einer Phase der vermeintlichen Besserung wieder zurück auf die Berliner Schaubühne. Zurück in seine (reale) „Hamlet“-Aufführung, was den gleichfalls realen Regisseur und Intendanten Thomas Ostermeier als Selbstdarsteller in einen menschlich-professionellen Konflikt bringt.
Als Lisa davon erfährt, dass der „Hamlet“ abgesetzt wird, macht Nina Hoss den Regisseur in einer fulminanten Szene zur moralischen Sau. Doch der Angegriffene wehrt sich mit dem Hinweis auf den Zustand seines Protagonisten: „Einen Schauspieler auf der Bühne sterben zu lassen, finde ich obszön!“
Lisa, die selber Theaterautorin ist, kämpft dann nicht nur um ein neues eigenes Stück, einen Monolog für den Bruder, der die Grimmsche Geschwistergeschichte von „Hänsel und Gretel“ als modernes Märchen paraphrasieren soll. Sie liebt neben dem Zwillingsbruder ebenso ihre kleinen Kinder und den Mann Martin (Jens Albinus), mit dem sie in der französischen Schweiz an einer luxuriösen Privatschule arbeitet.
Privater Bürgerkrieg
Doch man streitet auch hier: Martin hat ein lukratives Angebot, Schulleiter zu werden, während Lisa und wohl auch die Kinder eher zurück ins heimatliche Berlin drängen. Und keiner möchte zwischen Berlin und der Schweiz eine Teilzeitelternschaft leben. Das eskaliert bis zum Krieg. Nur ein Ehekrieg. Aber das ist, privat-politisch, eben noch immer der häufigste Bürgerkrieg.
[25. 2., 9.30 Uhr (HdBF) und 13 Uhr (Friedrichstadtpalast), 1.3. , 12 Uhr (FSP)]
Wie im Theaterfall erscheint der Konflikt unauflöslich, Karriere, Vernunft und Liebe kommen selbst bei den Gesunden nicht glückhaft zusammen. Einmal flieht Lisa aus der Berliner Wohnung, fängt in der Dämmerung an, mit einem fremden Kind in den Sandkasten des Hinterhofs Zeichen zu malen. Am nächsten Morgen geht ihr Blick vom Balkon herab in den Hof, und die Zeichen im Sand ergeben: ein Labyrinth.
Das klingt ziemlich bedeutungsvoll, symbolisch, schwermütig. Aber Chuats und Reymonds Regiekunst machen das Tragische immer wieder komödiantisch. Allein schon im wunderbaren Zusammenspiel der Kinder (Linne-Lu Lungershausen, Noah Tscharland) mit ihrem wegen seiner Verstellungseinfälle geliebten Onkel Sven ergibt sich ein flirrender Witz; ebenso bei den Auftritten der Grande Dame Marthe Keller als Lisas Mutter und von Schnaps und Tabletten beschickerter Oma: ein egoistisches, gleichwohl komisches Ungeheuer.
Ein Bärenkandidat
Den Film zu einem der bisher wenigen Bärenkandidaten aber machen die beiden Protagonisten. Lars Eidinger spielt als kahler, von Chemotherapien Gezeichneter noch immer mal, frei nach Molière, den Eingebildeten Gesunden. Mit allem Scherz im Schmerz. Und dann gewohnt radikal, doch ohne narzisstische Abschweifungen, das Todesmotiv.
Wichtig ist hier auch das scheinbare Nebenbei. Ein Satz etwa zu den Missverständlichkeiten des wohlfeil Politischen in der Kunst: „Ein Schauspieler will nicht provozieren, sondern begehren. Und begehrt werden.“
Schon immer begehrt wird Nina Hoss. Die Kamera liebt ihren oft trauerumflorten, tiefdunklen Blick. Aber wie nie zuvor überspielt Nina Hoss in unzähligen Nuancen das schier Elegische. Macht Trauer dennoch groß und hat, wenn es vollbracht ist, ein Lächeln des Lebens. Neben dem fabelhaften Italiener Elio Germano als Außenseiterkünstler in „Volevo Nascondermi“ bisher eine Spitze der berlinalischen Schauspielkunst.