Schlacht bei Wittstock: Ein Schotte fällt bei Wittstock
Was die Funde des Massengrabs über Herkunft und Lebensart verraten.
Individuum 71 hatte wirklich ein schweres Leben gehabt, bevor es am 4. Oktober 1636 in der Schlacht bei Wittstock ein brutales Ende fand. Er war der Größte aus dem Grab der 125 Soldaten, maß etwa 1,80 Meter, war 21 bis 24 Jahre alt. „Wir fanden bei ihm gleich Hinweise auf einen schlechten Lebenswandel“, erzählt die Anthropologin Bettina Jungklaus aus dem Grabungsteam. „Wir konnten eine chronische Entzündung der Nasennebenhöhlen feststellen. Daraus kann man auf eine feuchte und kalte Wohnsituation schließen, und der Rauch der Lagerfeuer kam hinzu. Das kann man aus der Oberfläche der Knochen ablesen, sie werden porös und verändern sich.“ Dass Nr. 71 schon in der Kindheit an Mangelernährung litt, konnte ebenfalls anhand der Knochen nachgewiesen werden. „Er hatte zudem Karies und muss unter Schmerzen gelitten haben. Eigentlich war er gar nicht fit für die Schlacht“, schließt Jungklaus.
Vielleicht hat er deswegen auch so viel abbekommen. Ein Steckschuss im Oberarm ist nachgewiesen, die deformierte Bleikugel ist noch im Röntgenbild zu sehen. „Die Wucht des Aufpralls muss eine starke Wunde gerissen haben, er hat wohl stark geblutet. Im Nahkampf bekam er dann mit einer Hellebarde einen Hieb auf den Schädel, der gespalten wurde. Danach ist er mindestens bewusstlos zu Boden gegangen.“ Aber damit noch nicht genug. „Wir können auch einen Stich in die Kehle mit einem Dolch nachweisen, unter Umständen ein Gnadenstoß, wir wissen es nicht genau. Der zweite Halswirbel zeigt eine Knochenabsprengung von dem Stich, der auf jeden Fall tödlich war“, erzählt Jungklaus. Dann muss vermutlich noch etwas Schweres auf den Unterkiefer getroffen haben, ein Wagenrad oder ein Huftritt, auf jeden Fall ist der Unterkiefer zertrümmert. „Sein Schicksal vereint alle Verletzungsmöglichkeiten, die es in der Schlacht gab, deshalb haben wir ihn ausgewählt.“
Traurig blickt ein abgehärmtes, bleiches Individuum 71 den Besucher der Ausstellung an. Die Gerichtsmedizinerin Hilja Hoevenberg hat sein Gesicht rekonstruiert. Die Forscher konnten nachweisen, dass es sich um einen Schotten gehandelt hat. „Im Zahnschmelz des ersten Backenzahns lagern sich Strontium-Isotope ab, mithilfe derer wir seine Herkunft klären konnten. Das Wasser und das Essen, das er in seiner Heimat seit seiner Geburt zu sich genommen hat, spiegelt die geologische Zusammensetzung bei der Zahnschmelzbildung in den ersten Lebensjahren. Mithilfe eines Massenspektrometers können wir so die Herkunft bestimmen, in dem wir die gewonnenen Werte mit denen der einzelnen Regionen vergleichen“, erzählt Jungklaus. Die Werte für die einzelnen Regionen sind bereits in Karten erfasst. So könne man ein Drittel der Individuen sicher nachweisen, ein weiteres Drittel ziemlich sicher – auch mithilfe historischer Quellen. Man weiß, welche Regimenter auf schwedischer und kaiserlicher Seite gekämpft haben.In schwedischen Diensten kämpften viele Schotten, was die Untersuchungen von Steve Murdoch von der Universität St. Andrews bestätigen.
Mit Nr. 71 hat der einfache Soldat aus der blutigen Schlacht ein Gesicht bekommen – unvorstellbar, wenn man sich die Fundsituation vor Augen führt. Wegen der Plünderung der Toten trugen sie höchstens noch das letzte Hemd, ein paar Schnallen sind gefunden worden, aber sonst nicht viel. Alle Informationen über das Geschehen lassen sich mithilfe verschiedener naturwissenschaftlicher Disziplinen aus dem Knochenfund herleiten.
Bettina Jungklaus war von Anfang an bei der Grabung dabei, hatte die Knochen mit freigelegt, die Fundlage dokumentiert und dann später die Knochen gereinigt und analysiert. Zur Überraschung der Wissenschaftler waren die Toten nicht einfach in eine Grube geworfen worden, sondern Seit an Seit in drei Lagen übereinandergestapelt gewesen.
Anhand der Knochen konnten Krankheiten und alte Verwundungen, auch verheilte, nachgewiesen werden. „Wir waren selber erstaunt, wie viele Verletzungen die Soldaten schon erlitten hatten, die müssen wirklich Unglaubliches mitgemacht haben.“
Zu den häufigsten Krankheiten gehörte die Syphilis, die sich durch eine Verdickung der Knochen nachweisen lässt. „Viele Soldaten hatten Karies, aber weniger als die normale Bevölkerung. Das deutet auf proteinhaltige Nahrung, also mehr Fleisch, hin.“
„Wir können das Schicksal jedes Individuums rekonstruieren, die Untersuchungen dauern noch an. Aber wir wissen jetzt schon, dass etwa 25 Prozent der Soldaten in der Schlacht fielen, die anderen 75 Prozent starben an Krankheiten und Unterversorgung“, wagt Bettina Jungklaus ein erstes Resümee dieser umfangreichen Untersuchung. Rolf Brockschmidt
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