Comic-Dokumentationen: Ein postsowjetischer Archäologe
Mit seinen zwei Bänden über die Ukraine und den Tschetschenien-Konflikt hat Igort zwei grafisch beeindruckende und inhaltlich bestürzende Comic-Reportagen abgeliefert, die die verschüttete Vergangenheit und Gegenwart ehemaliger Sowjet-Staaten dem Vergessen entreißen.
Die Welt interessiert sich nicht besonders für die Ukraine. Nur wenn dort eine Fußball-EM stattfindet, ein Atomkraftwerk explodiert oder eine fotogene Politikerin inhaftiert wird, richten sich auch westliche Augen kurz auf dieses ebenso riesige wie unbekannte Land. Igort, alias Igor Tuveri („5 ist die perfekte Zahl“), Jahrgang 1958, verbrachte 2008 und 2009 fast zwei Jahre dort, um herauszufinden, wie das Leben nach dem Kommunismus für die Ukrainer aussieht. Der vor einem Jahr auf Deutsch veröffentlichte Comic „Berichte aus der Ukraine – Erinnerungen an die Zeit der UdSSR“ leistet jedoch wesentlich mehr als nur das.
Der italienische Comiczeichner findet ein heruntergewirtschaftetes Land vor: Die Finanzkrise hat ihre Spuren hinterlassen, selbst Manager verdienen nicht genug, um sich eine Wohnung in Dnipropetrowsk leisten zu können. Der Immobilienmarkt wird von der Mafia kontrolliert, tausende Menschen müssen jeden Tag stundenlang auf den Bus warten, der sie in ihre entlegenen Wohnorte fährt. Dabei ist das Land groß und fruchtbar, doch die einstige Kornkammer Europas liegt seit langem brach: „Unendlich weite Äcker, größtenteils nicht mehr bebaut. Die Stille dröhnt in den Ohren.“
Schnell wird Igort klar, dass die triste Gegenwart nur verstanden werden kann, wenn man sich mit der Vergangenheit beschäftigt, deren stummer Schmerz in alle Menschen, denen er begegnet, eingekapselt ist. „Ich konnte die Geschichten einfach nicht für mich behalten“, begründet Igort sein Projekt.
Schicksale, die einen verstummen lassen
Je länger man die Comic-Reportage liest, desto verständlicher wird diese Aussage, denn es ist erstaunlich, wie die katastrophalen Ereignisse der Sowjet-Zeit so lange kaum beachtet werden konnten. Ein prägendes Ereignis in der Erinnerung vieler Ukrainer ist der „Holodomor“, eine 1932 von Stalin verursachte Hungersnot, bei der die Ernte von Millionen von Bauern beschlagnahmt wurde. Die Grenzen wurden abgeriegelt, die hungernde Bevölkerung sich selbst überlassen. Die 80-jährige Serafima Andrejewna erinnert sich daran, wie sie im Winter als Kind im Wald nach kleinen Wurzeln grub oder zumindest auf Pferdehaut kaute. Aus schierer Not breitete sich in einigen Regionen des Landes Kannibalismus aus, ein regelrechter Handel mit dem Fleisch von Menschen entstand. Andrejewnas Freunde starben nach und nach: „Wenn das geschah, wussten alle Bescheid. Es gab keine Beerdigung, nichts dergleichen. Man verschloss das Haus und kurz danach sah man Rauch aus dem Kamin kommen.“
Etwa ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung – etwa 3,5 Millionen Menschen – starb zwischen 1932 und 1933. Auch westliche Medien interessierten sich damals kaum für die Katastrophe, die breite Aufmerksamkeit lag auf dem Aufstieg Hitlers. Die Ukraine bemüht sich bis heute darum, den Holodomor als Völkermord anerkennen zu lassen. 21 Länder erkennen den Genozid an, Deutschland zählt nicht dazu.
Die Ukraine, die Igort zeichnet, ist ein statisches, melancholisches Land, in dem die Zeit still steht. Es ist vergessen worden, von seiner Regierung, von Europa, von der Geschichte. Über die Zukunft denkt man nicht nach, über die Vergangenheit spricht man kaum. Igorts Zeichenstil wirkt anfangs unauffällig und dokumentarisch, doch die karge Ästhetik passt perfekt zur Schilderung der postsowjetischen Wirklichkeit. In scheinbar schlichten Zeichnungen, die zwischen Abstraktion und Realismus schwanken, hält Igort die Biographien seiner Protagonisten fest, die in ebenso schnörkelloser und fatalistischer Weise von ihrem Leben während des Weltkriegs, dem Kommunismus und der Nachwendezeit erzählen. Sie alle besitzen einen stoischen (Über)Lebenswillen, der nicht Heroisches hat, aber dessen beinahe schon asiatische Duldsamkeit einen dennoch ehrfürchtig verstummen lässt. Durch seine Aufzeichnungen gibt Igort ihnen etwas Grundmenschliches zurück: Die Erinnerung an sie selbst, die sie schon lange aufgegeben haben.
Ein Denkmal für Anna Politkowskaja
Über den Kaukasus lässt sich ähnliches sagen, wie über die Ukraine: Der Tschetschenien-Konflikt ist in den westlichen Medien selten ein großes Thema. Wird er doch mal erwähnt, belassen es Journalisten oft bei dem Hinweis, dass es dort Menschenrechtsverletzungen seitens Russlands gibt. Derlei Allgemeinplätze sind nicht Igorts Sache: In dem jetzt erschienenen Buch „Berichte aus Russland – Der vergessene Krieg im Kaukasus“ berichtet er trocken und schonungslos von den Gräueltaten russischer Soldaten, die in ihrem Hass auf die tschetschenischen Rebellen willkürlich Zivilisten als vermeintliche Terroristen verhaften, vergewaltigen, foltern und umbringen. Igort stützt sich dabei auf die Recherchen von Anna Politkowskaja und Gesprächen mit Freunden der 2006 erschossenen Journalistin. Ihre Ermordung sowie die Morde an zwei weiteren Journalisten verarbeitet Igort ebenfalls in seinem Comic. Er lässt darin sowohl zivile Zeugen zu Wort kommen als auch Freunde Politkowskajas sowie russische Soldaten, der im Kaukasus im Einsatz waren. Moasikartig setzt sich das Bild eines Konflikts zusammen, der älter ist, als die Sowjetunion selbst.
Schonungsloser Chronist
Die geschilderten Grausamkeiten sind ein tiefer Schlag in die Magengrube, aber Igort bleibt – soweit das in diesem Fall überhaupt möglich ist - trocken und sachlich, er arbeitet nicht mit Schockeffekten, die Fakten, die er präsentiert, sind schockierend genug. Wenn das Grauen zu unerträglich wird, beginnen sich seine Bilder zu kubistischen Gespensterwelten zu verzerren, die deutlich an Picassos „Guernica“ angelehnt sind. Die sadistische Brutalität der Soldaten macht auch nicht vor den eigenen Männern Halt, wie im Fall von Leutnant Bagarew, der wegen Befehlsverweigerung gefoltert, mit Chlor übergossen und tagelang in eine Erdgruße gesteckt wurde.
Igorts Schilderungen sind zutiefst erschütternd. Ähnlich wie bei dem Band über die Ukraine wirkt das Gelesene noch lange nach, und genau das soll es auch. Es holt die Vergessenen – Tote wie Lebende – wieder ans Licht. Igort ist ein Chronist, ja eigentlich sogar ein Archäologe, denn das, was er festhält, steht in keiner Chronik, er lässt die sprechen, mit denen sonst niemand spricht. Die Comics über die Ukraine und Russland sind die zwei Teile eines von Igort geplanten „Diptychons“ über die Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Es bleibt zu hoffen, dass Igort daraus mindestens noch ein Triptychon macht, denn bereits mit den beiden erschienenen Comics hat Igort für die Vergangenheit Osteuropas das geleistet, was Guy Delisle mit seinen ersten drei Comic-Reportagen für die Gegenwart Ostasiens getan hat.
Igort: Berichte aus Russland (Der vergessene Krieg imKaukasus), Reprodukt 2012, aus dem Italienischen von Federica Matteoni , Handlettering von Céline Merrien, 176 Seiten, 24 Euro.
Berichte aus der Ukraine (Erinnerungen an die Zeit der UdSSR), Reprodukt 2011, aus dem Italienischen von Giovanni Peduto, Handlettering von Céline Merrien, 180 Seiten, 24 Euro.