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Rudolf Belling im Hamburger Bahnhof: Ein Leben im Futur

Ob gegenständlich oder gegenstandslos, er erlaubte sich alles: Der Hamburger Bahnhof präsentiert den Bildhauer Rudolf Belling in einer umfassenden Ausstellung.

Starker Auftritt: ein Mann mit Reifen, den er entschlossen vor sich hält, wie ein Krieger seinen Schild. Auf der Nase trägt der Kerl eine stilisierte Rennfahrerbrille. Auch sonst ist an dieser überlebensgroßen Figur alles Tempo, geballte Kraft. Flügeln gleich, schweifen seine Schultern nach hinten aus, als wäre er wie Superman im Comic gerade erst zum Stillstand gekommen. Der monströse Geselle ganz in Weiß – eine aus Styropor und Rigips gefertigte, verkleinerte (!) Rekonstruktion – posiert vor dem Eingang der Rudolf-Belling-Retrospektive im Hamburger Bahnhof und stellt sogleich eines klar: Hier wird es keine klassische Bildhauer-Ausstellung geben, mit gesitteten Skulpturen auf Sockeln. Der rasante Stilmix, das Wechselspiel zwischen angewandter und freier Kunst fängt schon vor der Tür an.

Als Künstler war Rudolf Belling (1886– 1972) immer schon für Überraschungen gut. Er arbeitete für den Film, gestaltete Interieurs, entwarf Brunnen und eine futuristische Tankstelle, ließ sich seine Schaufensterpuppen patentieren und schuf für die Automarke Horch ein Symboltier für die Kühlerhaube, das höchst passend seine riesigen Ohren aufsperrt.

Belling passte in keine Kategorien der Kunstgeschichte hinein

Der Mann mit dem Pneu stand 1921 als sieben Meter große Werbeplastik für einen Reifenhersteller in der Südkurve der Avus. „Ob gegenständlich oder gegenstandslos, ich erlaube mir alles“, lautete Bellings Credo, der mühelos vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit, vom Futurismus zum Konstruktivismus wechselte. In der von ihm für den Admiralspalast 1921/22 gestalteten Eisrevue „Futuristischer Carneval“ ließ er gleich alle Ismen parallel auftreten, indem er jede Figur als andere Stilrichtung kostümierte. Umso leichter geriet der Bildhauer, der in Deutschland den ersten Schritt zur abstrakten Skulptur machte und in der Weimarer Republik für Kunst im öffentlichen Raum gefragt war, in Vergessenheit.

Der gebürtige Berliner passte einfach nicht in die Kategorien hinein, nach denen sich Kunstgeschichte und Ausstellungsbetrieb lange Zeit richteten. Das hat sich glücklicherweise geändert. Nicht zuletzt die Multimedialität heutiger Künstler weckte das Interesse der Wissenschaft auch an einem Allrounder wie Belling. Die Neue Nationalgalerie nimmt nun mit ihrer Retrospektive eine Spur wieder auf, die vor 100 Jahren ihren Anfang nahm. Damals organisierte Direktor Ludwig Justi im Kronprinzenpalais die erste Einzelausstellung des Vielumworbenen, den die Galerien Gurlitt und Flechtheim vertraten, und kaufte anschließend eine Holzfassung seines „Dreiklang“. Für die Arbeit ist Belling noch heute bekannt: drei abstrakte, sich in die Höhe reckende Formen, zwei wenden sich einander zu.

Die Klang-Assoziation leuchtet ein, zumal Belling den Entwurf bereits weitergedacht hatte – ins Monumentale vergrößert als expressionistischen Musikpavillon aus Backstein. Ebenso könnten sich hinter den Formen auch Symbolisierungen anderer Künste verbergen, Malerei, Plastik und Architektur, oder Tanz und Film. Belling verbindet die Gattungen mit einer Leichtigkeit, die ihm durch seine Anfänge als Modelleur mitgegeben war. Noch bevor er an die Akademie ging, betrieb er ein Atelier für Kleinplastik, Dekoration und Kunstgewerbe, das die Bühnen Max Reinhardts belieferte. In der Hochschule sah man ihn zunächst nicht viel, er probte lieber mit Asta Nielsen vor der Kamera.

"Entartet" oder "große deutsche Kunst"?

Die Kuratoren Dieter Scholz und Christina Thomson verknüpfen diese vielen losen Fäden zu einem eindrucksvollen Ausstellungsgeflecht in der Neuen Galerie, wie sich die Außenstelle der Neuen Nationalgalerie im Westflügel des Hamburger Bahnhofs nennt. Belling ist der dritte Streich nach den „Schwarzen Jahren“, einer Aufarbeitung der Sammlungsgeschichte während der NS-Zeit, und der Kirchner-Schau. Dass der in Sanierung befindliche Mies-van-der-Rohe-Bau derzeit als Ausstellungsort fehlt in Berlin, darüber können diese hervorragend gemachten Ausstellungen nicht hinwegtäuschen. Doch sie vermitteln einen Eindruck von der künftigen Präsentation im Stammhaus und im dann benachbarten Museum der Moderne: allen Künsten und Seitenwegen aufgeschlossen, multimedial, didaktisch ansprechend und mit Gespür für die Valeurs einer Künstlerbiografie.

Rudolf Bellings Werdegang setzte sich im „Dritten Reich“ nicht bruchlos fort. War er zuvor als Auftragnehmer für Kunst am Bau in Gewerkschaftshäusern und als Porträtist sozialdemokratischer Parteigrößen begehrt, so musste er sich plötzlich neu orientieren. Mit seiner figurativen Plastik passte er zwar ins Raster der Nationalsozialisten, die 1937 seine Figur des populären Boxers Max Schmeling prompt in die Große Deutsche Kunstausstellung im Münchner Haus der Kunst aufnahmen, seinen „Dreiklang“ und den ähnlich avantgardistischen „Kopf aus Messing“ aber in die parallele Ausstellung „Entartete Kunst“ steckten.

Belling hatte sich dem politischen Konflikt schon zuvor entzogen, indem er als Lehrer an die Istanbuler Akademie ging. Seine heldenhaften Staatsporträts von Atatürk und dessen Nachfolger standen allerdings ästhetisch mit Breker auf einer Linie und verbauten ihm nach ’45 die Rückkehr nach Berlin.

So vielseitig, so sprunghaft wie Belling war keiner

Im Alter von 80 Jahren siedelte der Künstler schließlich in die Nähe von München um. Da hatte er sich längst wieder seiner abstrakten Plastik erinnert und erste Großaufträge für den öffentlichen Raum in der Bundesrepublik angenommen, etwa für eine Bank sowie eine Siedlung der Neuen Heimat in Hamburg und zuletzt für den Münchner Olympiapark. Die Aufstellung der „Schuttblume“, wie das Friedensdenkmal im Volksmund hieß, erlebt er nicht mehr. Der Bildhauer stirbt 1972 kurz vor der Enthüllung.

Wieder hoch geehrt in der Bundesrepublik und doch verbittert über die Vorwürfe von Akademiepräsident Karl Hofer in Berlin, gehört Belling zu jener Generation von Künstlern, Museumsleuten, Händlern und Sammlern noch aus der Weimarer Republik, die den kulturellen Neubeginn Westdeutschlands prägten – anknüpfend bei der Formensprache der 20er Jahre, jedoch hoffnungsvoll beschwingt und teils allzu schnell bereit, die jüngste Vergangenheit zu vergessen. So vielseitig, so sprunghaft wie Belling aber war keiner. Dass er mit seinem Spätwerk den letzten Haken schlug und wieder abstrakt wurde, ist da nur konsequent.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50/51, bis 17. September; Di bis Fr 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa / So 11–18 Uhr. Katalog (Hirmer Verlag) 35 €

Nicola Kuhn

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