Lob der Kunstpause: Ein Krankenbesuch bei der Klassik
Nein sagen, um sich selbst zu schützen: Warum wir Rolando Villazons Stimmbändern und Vladimir Malakhovs Kniegelenken dankbar sein müssen.
Der Sänger Rolando Villazon hatte Knötchen auf den Stimmbändern und ist nach OP und Rekonvaleszenz hörbar nicht mehr der Alte. Sprechen möchte er darüber in Interviews nicht, verständlicherweise, er singt jetzt mexikanische Volkslieder und tritt nach wie vor in großen Sälen auf. Die Pianistin Hélène Grimaud musste ein Vierteljahr zwangspausieren, ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen, und ist gerade wieder on tour: London, Paris, Toulouse, Mailand, Zürich, Sofia, Moskau, St. Petersburg, China und Kalifornien, gefolgt von Japan, Kanada und der Ostküste der USA. Und auch Vladimir Malakhov tanzt wieder, Berlins primo ballerino, fünf Monate nach einer neuerlichen Knieoperation, beidseitig wohlgemerkt. Fußballer mit nur einem derartigen Knie, versichert sein Arzt, bräuchten bis zu acht Monate, um wieder fit zu sein.
Viele Stars schwächeln, und sie tun das, wie viele Politiker, einerseits offenherziger denn je und andererseits besorgniserregender. Sie schwächeln, weil ihre Körper dem Druck aus den Köpfen nicht standhalten. Drogen aller Arten, Beruhigungspillen gegen Lampenfieber, Vitamin C fürs hohe „C“, Glukosamin gegen streikende Gelenke – hinter den Kulissen ist das an der Tagesordnung. Funktionieren um jeden Preis. Raubbau als Methode und legitimes Inspirationsmoment. Als wäre nur der aus dem letzten Loch pfeifende Künstler ein guter, wahrhaftiger Künstler; als wären physische und psychische Entgrenzung, die Sehnsucht nach dem Aus-der-Rolle-Fallen, das sich unsere Leistungsgesellschaft verbittet, einzig auf seinen Schultern abzuladen. Was für ein pseudo-romantischer Irrsinn!
Die Überforderung indes hat System. Längst sind es nicht mehr blutrünstige Agenturen oder geldgeile Plattenfirmen, die den erschöpften Rampenlichtarbeiter mit dem Nudelholz des Profits vor sich her treiben. Das Problem sitzt in den Künstlerköpfen – und zwar tief. Die Angst, zu versagen und von der Bildfläche zu verschwinden; die Angst vor handfesten ökonomischen Einbußen. Das Plakat des Berliner Waldbühnenkonzerts im Sommer 2011 beispielsweise mit Anna Netrebko, Jonas Kaufmann und Erwin Schrott kann Rolando Villazon nur das Gruseln lehren: Wäre alles geblieben, wie es war und er gesund, der Tenorpart in diesem „Gipfeltreffen der Klassikstars“ hätte selbstverständlich ihm gebührt. Auch Fragen nach Frau Netrebko übrigens verbittet er sich neuerdings. Aus, vorbei. Niemand in diesem Geschäft ist unersetzbar. Ein Großveranstalter wie die DEAG weiß das zuallererst.
Wo liegt die Grenze zwischen Drang und Drangsal?
Oder der jüngste Coup von Universal Music, unter deren Dach die Traditionslabels Deutsche Grammophon und Decca vereinigt sind. Mit dem 67-jährigen Daniel Barenboim wurde hier ein Exklusivkünstler ins Boot gehievt, der dank seines Engagements in Sachen Musikerziehung zwar für einen guten Leumund sorgt, der als Pianist allerdings auch Ressourcen bindet. Möchte Barenboim demnächst vielleicht Franz Schubert repräsentativ einspielen, dann wird das so schnell kein anderer aus demselben Stall tun. Wo alles in einer Hand liegt (die wirtschaftliche und ästhetische Souveränität der Labels war gestern), wird das Überleben zur Familienfrage. Man kannibalisiert sich gegenseitig. Also nix wie rein ins darwinistische Hamsterrad.
Eingekeilt zwischen smarten Youngstern wie Alice Sara Ott und Altmeistern dürfte Hélène Grimaud nicht unbedingt ruhiger schlafen. Dass sie aus ihren Krisen nie ein Hehl gemacht hat, wirkt ohnehin weniger als Sand denn als Rädchen im Getriebe, eine Art Aufmerksamkeitsbeschleunigungsimpuls. Das Schlimme daran: Die Sache ist ernst, und Grimaud, indem sie sich offenbart, meint es absolut ehrlich. Der Markt aber duldet keinen Stillstand. Und erst recht niemanden, der eine Musikerin wie sie vor sich selber schützte.
Außerdem kommt Kunst, nach Arnold Schönberg, von Müssen. Das ist es ja. Kaum ein prominenter Interpret glaubt, dass er fremdbestimmt agiert. Nicht mehr unterscheiden zu können zwischen innerem Drang und äußerer Drangsal aber gehört mit zu den Symptomen der Selbstausbeutung. Wie viel musikalische Inspiration bieten Hotelzimmer, Taxis, Flugzeuge? Oder leben Mozart und Wagner, lieber Daniel Barenboim, nur aus Mozart und Wagner?
Früher fiel das alles weniger ins Gewicht. Die Musentempel waren voller, die Stimmen heiler, das Publikum klüger, die gesellschaftliche Relevanz umfassender. Ein Wagnertenor wie Wolfgang Windgassen konnte zeitlebens brav Ensemblemitglied in Stuttgart sein, eine mythisch verehrte Virtuosin wie Clara Haskil absolvierte selten mehr als eine Handvoll Abende pro Jahr, und Pultlegenden wie Hans Knappertsbusch und Günter Wand hießen Kapellmeister, ohne sich zu schämen. Bodenständig sei die Kunst, maßvoll und bescheiden? In Zeiten der Globalisierung klingt das fast höhnisch.
Christian Thielemann gilt als störrisch und kapriziös
Natürlich gab es auch die anderen, die Exzentriker und Paradiesvögel, die Seiltänzer und Selbstzerstörer: Enrico Caruso und Richard Tauber spuckten beide auf offener Bühne Blut, so dreckig ging es ihnen körperlich am Ende. Maria Callas hungerte sich aus Liebe zum Jetset alles Gold aus der Kehle. Joseph Keilberth, zeitgleich Chef der Bamberger Symphoniker und der Bayerischen Staatsoper, erlitt 1968 im zweiten Akt von Wagners „Tristan“ einen Herzinfarkt und starb an Ort und Stelle. Peter Hofmann, Heldentenor mit Rockstar-Ambitionen, siecht seit Jahren an Parkinson und Demenz dahin. Krankheit als Metapher.
Alles schon einmal da gewesen also, alles wie gehabt? Ja und nein. Auch Händel musste im 18. Jahrhundert mit seinen Opern Geld verdienen und stellte dafür alles Mögliche an und soll, traut man der Historie, nicht der Gesündeste gewesen sein. Das Viel- und Zuvielmachen jedenfalls ist keine Erfindung von Lang Lang oder Zubin Mehta. Erst die Karajanisierung des Musikbetriebs Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch schloss die Kunst systematisch mit dem Kommerz kurz – was bedeutet: Seither diktiert der Markt auch das Gute, Wahre, Schöne. Und will hier wie überall (in der Finanzwirtschaft, im Sport, in den Medien) höher, schneller, weiter hinaus. Die Frage ist nur, wie man sich als Protagonist dieser Dynamik entzieht und trotzdem Protagonist bleibt. Ein bisschen Profi-Fußball, die richtige Musik im falschen Business, gibt es das?
Der Umkehrschluss, dass nur der gesunde, stabile, ausgeruhte Künstler ein guter Künstler sei, ist natürlich absurd. Aber einen Gegentypus zu den notorischen Zahnfleischgängern gibt es schon. Christian Thielemann etwa legt Wert darauf, nicht jeden Abend einen neuen bunten Hund durchs Dorf zu jagen – und gilt prompt als kapriziös, störrisch und „nicht belastbar“. Deutsche-Grammophon-Künstler, Liebling des Grünen Hügels und designierter Chef der Dresdner Staatskapelle ist er trotzdem. Und auch Cecilia Bartoli bringt das Kunststück fertig, ihre Lust auf Repertoireraritäten seit Jahren marktgerecht zu synchronisieren. Die Erträge übrigens können sich hören und sehen lassen.
Viele wären hier noch zu nennen: die exzentrische Geigerin Patricia Kopatchinskaja, die sich beim kleinen französischen Label Naive sehr wohl selbst verwirklichen kann; der 27-jährige britische Dirigent Robin Ticciati, der regelmäßig zu Hause aufs Meer schauen muss, um wieder zu sich zu kommen; die Sängerin Vesselina Kasarova, die sich bewusst rar macht. Die Generation Barenboim hat sich noch darin gefallen, die Branche zu beherrschen. Alle Nachfolgenden werden beherrscht und müssen lernen, sich zu verweigern. Und zwar auch dann, wenn sie es sich vermeintlich (noch) nicht leisten können. Um sich selbst nicht zu verlieren und weil Neinsagen frei macht. Und weil – simple Botschaft – die Musik zwar ohne den Markt, der Markt aber niemals ohne die Musik existieren wird.
Christine Lemke-Matwey