Andrea Arnolds Film "Fish Tank": Ein kraftvolles Mädchenporträt aus London
Die 15-jährige Mia lebt im Londoner Plattenbau und zerkloppt ihre Welt schon mit aller Kraft. Andrea Arnold liefert mit "Fish Tank" ihren jungen Beitrag zum sozialen Wirklichkeitskino und bekam damit wie schon für "Red Road" letztes Jahr den Preis der Jury in Cannes.
Alles so quietschbunt hier in der Plattensiedlung östlich von London, die Fassaden brüllendes Orange und brüllendes Blau, und erst die Wohnung, in der Mia heranwächst zwischen total junger Mutter und Kratzbürste von kleiner Schwester, rosa Treppengeländer, rosagrüne Schlafklamotten, der Bettbezug so knallgrün wie die Flipflops und so weiter. Aber das ist es nicht.
Dagegen der Blick aus dem Fenster über die Wohnblöcke weg, da dreht sich das einsame Windrad so schläfrig und grau in der Ferne. Wie eine Zentrifuge in die Luft gestellt, die alle Farben einstampft in diesem Grau. Aber das ist es auch nicht.
Das Leben sind nicht die Plastikfarben, die die Armut überschminken, das Leben ist auch nicht das Grau da hinten am Horizont. Nur welche Farbe bringt es eines Tages oder welche Farben? Mia ist 15 und zerkloppt ihre Welt schon mit aller Kraft. Rausgeflogen aus der Schule, das Aggro-Girl, gemieden von den Freundinnen, noch ein Kopfstoß und noch was von dem Alk, der zu Hause reichlich rumsteht, und es macht Tilt. Mia ist ein Projektil, abgeschossen in die Welt und unentwegt abprallend von Wänden ohne jeden Energieverlust. Und eines Morgens latscht wieder mal ein neuer Lover der Mutter rüber zum Kühlschrank – aber was, wenn der jetzt plötzlich cool ist? Und was, wenn Mia sich jetzt auch noch in den verliebt?
Das ist das Setting. Das ist die Geschichte, hoch spannend und dabei niemals überraschend. Mia und ihre kleine Schwester, die auch schon mit dem Rauchen angefangen hat. Mia und ihre sexy Mama, deren Lebenshunger beide Töchter so fatal im Weg stehen. Und Mia und Connor, das ist der besagte Ersatzpapa auf Zeit, der da vor Mias Augen so unwiderstehlich entspannt mit freiem Oberkörper durch die Küche geht.
„Fish Tank“, Aquarium, heißt der Film, und damit hat Andrea Arnold, wie schon 2006 für „Red Road“, letztes Jahr den Preis der Jury in Cannes gewonnen. Es gibt ein Rachemotiv wie in „Red Road“, aber anders als in ihrem noch arg ertüftelten Debüt klingt es hier nur an und verklingt. „Fish Tank“ muss kein Drama behaupten, er ist das Drama selbst der Selbstbehauptung einer Heranwachsenden zwischen familiärer Verwahrlosung, herzzerreißend vagabundierender Anlehnungssucht und der Hoffnung, dass irgendwas Schönes noch nachkommt mitten in diesem allumfassenden seelischen Prekariat. Und sei es, zu „Life’s A Bitch“ von Nas das graue Windrad wegzutanzen, das tumb rumtaumelnde Windrad am Horizont.
Katie Jarvis ist Mia, und dass die Regisseurin sie vom Bahnsteig weggecastet hat, als Katie sich mit ihrem Freund stritt: Man glaubt es sofort. Michael Fassbender ist der ungemein schillernde, stimmige Connor, und Kierston Wareing, von Ken Loach für „It's A Free World“ entdeckt, ist die verlorenste Mutter der Welt. Und Andrea Arnold? Ganz einfach, sie ist der Beweis, dass das wunderbar präzise soziale Wirklichkeitskino des Ken Loach und Mike Leigh weiterlebt. Nur geschmeidiger. Und jünger.
Zu sehen im FT Friedrichshain, Hackesche Höfe, Kant, Kulturbrauerei und Yorck; Originalfassung mit Untertiteln im Odeon.