Deutsch-israelische Literaturtage in Berlin: Ein Kind? Sechs Millionen!
Autoren erzählen ihre Familiengeschichten. Erfahren die Menschen in Deutschland das Zusammenleben mit ihren Verwandten anders als in Israel. Die Diskussionen ergeben überraschende Einsichten.
Deutsch-Israelische Literaturtage? Also Grass und sein Kommentar zu Israel. Wird zu Beginn von Ralf Fücks, dem Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, abgehakt – „steile Thesen, holprige Lyrik, wenig Sachkenntnis“. Dann wendet man sich dem Thema des Festivals zu: „beziehungsweise(n)“. Fünf deutsche und fünf israelische Autoren stellen ihre (im sehr weiten Sinn) Familienromane vor und geraten über unterschiedliche Familienvorstellungen ins Gespräch. Zumindest bei den ersten Begegnungen kam viel mehr heraus als das, was auf der Hand zu liegen scheint: dass die deutsche Gesellschaft individualistischer und die israelische kollektiver geprägt ist.
Mit der ersten Vorstellung räumte gleich Christopher Kloeble auf. Entgegen der landläufigen Meinung, dass die familiären Strukturen in Deutschland immer mehr zerfielen, hätten sich Ehedauer und Scheidungsraten in den letzten Jahrzehnten kaum verändert. Unter einer gefühlten Atomisierung durchziehe die deutsche Gesellschaft eine recht reißfeste Familienstruktur (Dauer der Durchschnittsehe: 14 Jahre. Immerhin.) Kloeble, 1982 in München geboren, saß mit der in Tel Aviv lebenden Autorin Lizzie Doron auf dem Podium, die aus ihrem Roman „Das Schweigen meiner Mutter“ las. Doron wuchs vaterlos in einem Viertel auf, das von Holocaust-Übelebenden gegründet worden war, und lebte zeitweise in einem Kibbuz auf den Golanhöhen, um der lastenden Atmosphäre dieses Ortes zu entfliehen. Ihre Mutter hatte nie über den Vater gesprochen. Und weil sie das Geheimnis akzeptieren wollte, hatte sich die Tochter auch nie für ihn interessiert. Erst als Zuhörer bei einer Lesung in Deutschland nach ihm fragten, begann sie zu recherchieren.
Sie fand nicht nur heraus, dass er als Einziger seiner Familie überlebt hatte – ihre Mutter hatte, bevor sie nach Israel kam, in Berlin schon eine erste Familie gegründet. Lizzie Doron wurde Linguistin, weil die Mutter ihre Tochter als Professorin sehen wollte. „Es war für mich als einzige Tochter einer Überlebenden ganz selbstverständlich, den Traum meiner Mutter zu leben.“ Dann sagt Doron einen Satz, der eine Ahnung vom Druck vermittelt, der nach dem Krieg auf israelischen Frauen lastete. „Ich hätte sechs Millionen Kinder bekommen sollen, es wurden nur zwei.“
Von einem starken Kinderdruck berichtete am nächsten Abend auch Sara Shilo, Tochter einer irakischen Mutter und eines syrischen Vaters und selbst Mutter von fünf Kindern. Ihre Cousine sei dank künstlicher Befruchtung mit 45 Mutter geworden und habe sich da als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gefühlt. „Wenn du keine Kinder hast“, zitierte sie ihre Cousine, „existierst du nicht.“
Eine israelische Frau bekommt durchschnittlich 3,5 Kinder. Steckte dahinter früher das Trauma des Holocaust, hat der Gebärdruck heute auch auch damit zu tun, dass die arabischen Nachbarn noch kinderreicher sind.
Dagegen wirken Biografien deutscher Autoren zwangsläufig undramatisch. Die „Schicksalslosigkeit“, wie Thomas Hettche es nannte, verweise die Familie mit ihren Bindungskräften in einen archaischen Raum, der das moderne Ich mit der Unbedingtheit heftiger Emotionen versorge und an die Ohnmacht des Gebundenseins erinnere. Dass diese Ohnmacht selbst schicksalshafte Züge annehmen kann, zeigte ein Ausschnitt aus seinem Roman „Die Liebe der Väter“, in der ein Vater ohne Sorgerecht sich in Hassfantasien gegen die als dämonisch empfundene Mutter der gemeinsamen Tochter verliert. Andreas Schäfer
Am Sonnabend lesen Amichai Shalev und Dirk Kurbjuweit um 18 Uhr im Studio des Gorki-Theaters, am Sonntag um 19.30 Olga Grjasnowa und Yotam Tolub in der Heinrich-Böll-Stifutung.
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