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© dpa

Architektur der Sechzigerjahre: Ein Jahrzehnt wird Geschichte

Abreißen oder erhalten? Wie die Architektur der sechziger Jahre Deutschland bis heute prägt.

Jede Generation hat ihre ästhetischen Vorlieben und Abneigungen. Oft trifft beides die gleichen Objekte. In Deutschland sind derzeit zahlreiche Bauten der sechziger Jahre von Abriss bedroht, während weit über die Zunft der Architekten hinaus Gegenstimmen laut werden, die auf Schutz und Bewahrung drängen.

Die sechziger Jahre bilden, anders als die unmittelbare Nachkriegszeit, keine eigene architektonische Epoche. Sie brachten keinen Bonner Plenarsaal hervor, keine wiederaufgebaute Münchner Pinakothek, kein Kölner Opernhaus. Vielmehr machte man, in der Spätzeit der Kanzlerschaft von Adenauer und den Jahren von Ludwig Erhard, einfach „weiter so“, mit dem Bau von Schnellstraßen und Großsiedlungen auf der grünen Wiese.

Dabei haben die Sechziger durchaus architektonische Leistungen aufzuweisen; nur Ikonen wie die Nierentisch-Ära der Fünfziger brachten sie nicht hervor. Die Eigenart der sechziger Jahre manifestiert sich anderweitig, in der Pop-Art zumal. Das mag erklären, warum die Bauten dieser Zeit mit einem Mal zur Disposition gestellt werden. Jüngstes Beispiel ist der niedersächsische Landtag in Hannover, dessen Plenarsaal aus dem Jahr 1962 (nach Dieter Oesterleins Entwurf von 1954) nicht saniert, sondern zugunsten eines Neubaus beseitigt werden soll. Die heftigsten Wellen schlägt das groß dimensionierte Vorhaben der Stadt Köln, anstelle des Schauspielhauses, ebenfalls von 1962, einen 300 Millionen Euro teuren Neubau hinzuklotzen – gleich neben das Opernhaus von 1956, das vor wenigen Jahren ebenfalls auf der Abrissliste stand, bevor sich ein bundesweiter Proteststurm erhob. Jetzt machen sich die Bürger dafür stark, dass auch das Schauspielhaus erhalten bleibt.

Köln hat mit dem Einsturz seines – Ende der Sechziger entworfenen – Stadtarchivs traurige Schlagzeilen gemacht. Dabei ist das auch ein Jahr danach noch nicht aufgeklärte Unglück nur ein Menetekel. So wurde die Josef-Haubrich-Kunsthalle, Symbolbau der in den späten Sechzigern so dynamischen Kulturstadt Köln, bereits 2002 abgerissen; ein Neubau war nicht gesichert und blieb dann auch aus. Und das Schauspielhaus wird von der Lokalpolitik als unschönes Anhängsel des Opernhauses verachtet, ohne dass die sensible Komposition der Baukörper am JacquesOffenbach-Platz begriffen würde.

In Bonn steht die denkmalgeschützte Beethovenhalle vor dem Aus. Sie stammt noch aus den fünfziger Jahren, weist aber bereits ins folgende Jahrzehnt. Bonn wünscht eine neue Konzerthalle, 100 Millionen Euro werden kalkuliert. Die maßvolle Kulturrepräsentation von einst ist nicht mehr gut genug, der Kommune wohlgemerkt. Der Bund hingegen hat mit der mustergültigen Restaurierung des 1963 errichteten Kanzlerbungalows im Bonner Regierungsviertel ein Zeugnis bundesdeutscher Befindlichkeit gerettet. Anders als die Alarmrufe mancher Kritiker glauben machen, die offenkundig zum ersten Mal Sechziger-Jahre-Architektur wahrnehmen, steht nicht das ganze Dezennium vor dem Abriss. Niemand vergreift sich an der Staatsbibliothek von Hans Scharoun (entworfen ab 1964), niemand an den Betonbauten Gottfried Böhms in Neviges oder Bensberg (entworfen ab 1963), niemand an den neuen Universitäten der Bildungsreform, ob in Bochum (Hentrich, Petschnigg und Partner, Entwurf 1962) oder Regensburg (Ackermann und Partner, Entwurf 1966) – um nur einige Beispiele zu nennen.

Wer sich umsieht in den bundesdeutschen Städten – und in der früheren DDR –, dem fällt auf, wie sehr sie in der Tat von den sechziger Jahren geprägt sind. Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit Bauten von hoher emblematischer Ausstrahlung entstanden, oft angesichts der unbewältigten Kriegszerstörung, wurden in den Sechzigern die Lücken gefüllt, die Freiflächen beplant, die kommunalen Serviceeinrichtungen freihändig platziert.

Mit der Vielzahl der Bauaufgaben wuchs die Vielfalt der Entwurfshaltungen. Und analog zu den gesellschaftlichen Veränderungen vollzog sich ein grundsätzlicher Wandel. Nach und nach wurde die Individualarchitektur durch technizistische, oft stadtsoziologisch unterfütterte Großvorhaben ersetzt. Erst als die Projekte finanziell aus dem Ruder liefen, erschrak man über die eigene Hybris – wie beim Großklinikum Aachen, an dem 14 Jahre lang bis 1983 (!) gebaut wurde. Oder beim Berliner Kongresszentrum, dessen Fertigstellung seit dem Entwurf 1966 beinahe ebenso lange dauerte und dessen Kosten sich am Ende versechsfachten.

Die charakteristischen Anstrengungen des Jahrzehnts galten weniger der Architektur als dem Großsiedlungsbau. In Hamburg, Bremen, Köln, Frankfurt und nicht zuletzt in Berlin mit dem Märkischen Viertel entstanden Trabantenstädte, die alles Ungesunde, Kleinteilige und Vermurkste der Stadt hinter sich lassen sollten. Noch ahnte kaum jemand die künftige komplexe Problematik aus Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit von Transfereinkommen und Ghettoisierung, die diese fortschrittlichen Siedlungen in soziale Brennpunkte verwandelte. Allerdings erschien bereits 1965 Alexander Mitscherlichs Streitschrift „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“. Sie kritisierte erstmals die Zerstörung gewachsener Strukturen aus sozialpsychologischer Sicht.

In der DDR wurde Halle-Neustadt zum Modell einer sozialistischen Stadt, zur Stadt der Chemiearbeiter hochgezogen. Parallel dazu wurde der Alexanderplatz zum Zentrum der „Hauptstadt der DDR“ ausgebaut, mit repräsentativen Bauten wie dem 37-stöckigen Hotel Stadt Berlin. Ein Centrum-Warenhaus gehörte ebenso zur städtischen Grundausstattung wie im Westen die mit gleichförmigen Rasterfassaden versehenen Horten-Kaufhäuser. Standardisierung, Industrialisierung, Großserie: Begriffe, die das Jahrzehnt präziser beschreiben als jede architektonische Einzelleistung.

Mit dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 unter dem Motto „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ gerieten die sechziger Jahre als unmittelbar vergangenes Jahrzehnt unter heftige Kritik. Hier machte man die Fehlentwicklungen aus, die zu der nunmehr beklagten Geschichtsvergessenheit geführt hatten. Erstmals galt die Sorge der „gemordeten Stadt“, so der Titel des berühmten Buchs von Wolf Jobst Siedler aus dem Jahr 1962. Erst 2003 erschien in der Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz eine Übersicht zu Architektur und Städtebau der sechziger Jahre – womit die prinzipielle Denkmalwürdigkeit dieses Jahrzehnts anerkannt wurde.

Aber wie soll man sinnvoll mit den zeittypischen Großobjekten umgehen? Ein aktuelles Berliner Beispiel ist der Flughafen Tegel, dessen Bau nach dem Entwurf von Gerkan und Marg 1965 begonnen wurde und der, obgleich als Gesamtkunstwerk gestaltet, seit Jahren verhunzt und verschandelt wird, ehe er im Oktober ganz zur nutzlosen Altlast deklariert werden wird.

Gewiss lässt sich nicht alles erhalten, was für einen Zeitabschnitt prägend war. Soziale und demografische Veränderungen sorgen für Handlungsbedarf, sei es in den Großsiedlungen, sei es bei kommunalen Einrichtungen, deren Unterhalt nicht mehr zu finanzieren ist. Dass mittlerweile über die sechziger Jahre diskutiert wird, ist dennoch aufschlussreich. Es macht deutlich, dass vieles bereits verloren gegangen ist, dass Eigenart und Bedeutung des noch Bestehenden jetzt endlich erkannt werden. Und es verrät – ähnlich wie die 68er-Debatte – den Grad der Historisierung: Die sechziger Jahre werden langsam, aber sicher Geschichte.

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