Fotografie: Ein Bild sagt mehr als Tausende
Es sind Ikonen des 20. Jahrhunderts: Nun versammelt ein Prachtband die Kontaktbögen zu den berühmtesten Magnum-Fotografien und macht so deren Genese deutlich.
Ein Stück Fotogeschichte. Und zugleich ein Bilderbogen Weltgeschichte, wie man ihn so noch nie gesehen hat. Magnum, 1947 in Paris und New York gegründet und alsbald die Agentur der berühmtesten Fotografen rund um den Globus, Magnum öffnet erstmals die eigene Herz- und Dunkelkammer.
Der nun auf Deutsch im Schirmer/Mosel Verlag erschienene Prachtband „Magnum. Contact Sheets. Wie aus Photographien Ikonen wurden“ zeigt 139 Kontaktbögen von 69 Fotografen, um sie mit den darauf markierten, zur Vergrößerung und Veröffentlichung ausgewählten Motiven zu konfrontieren. Ob Erich Lessings Bilder von Straßenkämpfen und Lynchjustiz beim Ungarn-Aufstand 1956, ob René Burris Close-ups von Che Guevara 1963, ob die 1966 ins Objektiv von Thomas Hoepker gestreckte Faust Muhammad Alis, ob die schwarz verschleierten Iranerinnen mit ihren Revolvern, die Jean Gaumy 1986 wie atavistische Erinnyen bei Schießübungen in der Nähe von Teheran aufgenommen hat, oder drei Jahre später Stuart Franklins Foto des chinesischen Studenten mit der Plastiktüte in der Hand ganz allein vor den Panzern auf dem Tiananmen-Platz in Peking, unmittelbar vor dem Massaker: Schon jedes Motiv für sich erzählt und ist Historie.
Nun aber erfährt man auch den Hintergrund dieser Bild-Geschichten. Es beginnt bereits 1933 mit Aufnahmen aus dem Vor-Bürgerkriegsspanien von Henri Cartier-Bresson und David „Chim“ Seymour sowie 1938 von Robert Capa mitten aus dem Bürgerkrieg – alle drei später Gründer der Agentur Magnum, die im kommenden April 65 Jahre alt wird.
Dieser Prolog aus den Jahren, als Magnum noch nicht geboren war, demonstriert gleich das Thema und stellt die Frage, was eigentlich die Wahrheit ausmacht bei großer Reportage-Fotografie. „Chim“ Seymour fotografiert im Mai 1936, zwei Monate vor dem Putsch der Falangisten gegen die gerade gewählte linke Volksfront und dem Beginn des Bürgerkrieges, vom Rathausbalkon einer spanischen Provinzstadt eine Versammlung von zweitausend Kleinbauern, denen ein Latifundienbesitzer einen Teil seiner Ländereien hatte verpachten müssen.
Es ist ein Gewimmel von Menschen, die offenbar zu einem Redner der Linken andachtsvoll gespannt und bisweilen mit gereckten Fäusten emporschauen. Das zeigt der Kontaktbogen von Seymours Agfa- Film. Auf einem der Bilder sieht man im Gedränge eine etwas abgehärmte, doch auch stolze Bäuerin mit ihrem Kleinkind an der Brust, das Gesicht mit dem geöffnetenMund von einem Sonnenstrahl gleich einer Aureole erleuchtet, die Augen nach oben gewandt: voller Hoffnung, voller Sorgen? Das bleibt offen. Seymour aber hat diese Einzelne aus der Menge herausvergrößert und damit den realen Kontext aufgelöst. So wurde sein Foto zum dramatischen Inbild der „Madre España;“, die mit ihrem Säugling in einer Mischung aus Anspannung und Furcht in jenen Himmel zu blicken scheint, aus dem die Faschisten – insbesondere Hitlers „Legion Condor“ – alsbald ihre Fliegerbomben abwerfen würden. Im Bürgerkrieg und danach ist das Bild, auch auf Plakaten, zur Ikone geworden. Zur symbolischen Anklage gegen den Bombenterror.
Auch Magnum, so schreibt die Herausgeberin Kristen Lubben in den sorgfältigen Begleittexten zu den einzelnen Sequenzen des Buchs, hat das Foto ab 1947 lange Zeit als vermeintlich originäre Nahaufnahme weltweit verbreitet. Erst der Kontaktstreifen beweist, dass die Frau in der Menge keinem Feind entgegenschaut, sondern zu einem Redner wohl der eigenen politischen Richtung, der vom Balkon, dem Standort des Fotografen, herunter spricht. Auch der Fotograf hatte mit seinem Kunstgriff die eigene, räumlich distanzierte Rolle zugunsten einer dramatischen Teilnahme verändert.
Jobbewerbung: Wie gut kann ein Fotograf Bilder nachbearbeiten?
Aus dem Jahr 1938 werden dann Robert Capas wahrhaft kühnen, in unmittelbarer Nähe der republikanischen Kämpfer gemachten Bilder einer Schlacht in Aragonien dokumentiert. Nicht dabei ist das weltberühmt gewordene Capa-Foto eines im Moment der Aufnahme angeblich gerade von einem Kopfschuss getroffenen Milizionärs. Seit einigen Jahren wird dessen Authentizität angezweifelt. Denn zum Beweis fehlt das Originalnegativ oder ein Kontaktbogen. Der leidenschaftliche Kriegsreporter Robert Capa, der später in Indochina von einer Mine zerfetzt wurde, hatte oft weder Zeit noch Lust, all seine Kontaktbögen zu ordnen und zu archivieren.
Im Jahr 1925 revolutionierte die Leica als erste Kleinbildkamera die Fotografie und das nun ungeheuer erleichterte und beschleunigte Handwerk des Bildreporters. Ab 1939 wurden dann Kontaktbögen professionell üblich: mit ihren auf dem Filmrand nummerierten Mini-Positiven, die dem Fotografen vor der Belichtung und Vergrößerung einzelner Motive als erste Orientierung unter der Lupe und später am Lichttisch dienten. In der Magnum-Dokumentation sieht man nun beispielhaft, welche Bilder welcher Fotograf auf seinen Bögen angekreuzt, durchgestrichen oder gar schon im Ausschnitt markiert hat. Mit einem Mal sehen wir nicht nur durch die Linse, sondern auch durch das prüfende, auswählende Auge des Bildkünstlers – oder eines Magnum-Kollegen in der Rolle des Bildredakteurs.
Henri Cartier-Bresson zählte Kontaktbögen eigentlich zum Intimbereich, sie seien etwas „sehr Emotionales“ und glichen dem „inneren Monolog“ des Fotografen. Er selber wollte sie gar nicht als Dokumente bewahren und hatte bei den eigenen Kontakten schnell eine Schere zur Hand und den Papierkorb. Sein jüngerer Kollege Martin Parr spricht angesichts der Magnum-Dokumentation dagegen von einem „Epitaph für die Analogphotographie“. In der digitalen Bilderwelt gibt es ja naturgemäß keine Kontaktbögen mehr und keinen überprüfbaren Originalfilm. Das mindert bisweilen die Beweiskraft der leicht manipulierbaren Digitalfotografie; andererseits sind die Zeitzeugen von Revolten, Katastrophen oder überraschenden Events heute die unmittelbar Beteiligten, die Echtzeit-Reporter mit ihren Handycams. Oft unscharf, amateurhaft, aber treffend.
Immerhin verlangte Magnum noch bis zum Jahr 2000 bei Bewerbungen von Fotografen auch Kontaktbögen: zur Überprüfung, wie eingereichte Bilder bearbeitet wurden und was jemand mit der Kamera ursprünglich geleistet hatte.
Das wirkt heute schon museal. Und tatsächlich sind in den letzten Jahren auch die Kontaktbögen von Fotokünstlern wie Diane Arbus, Robert Frank, William Klein oder Annie Leibovitz zu eigenen Ausstellungsstücken geworden. Sogar digitale Photoshop-Programme simulieren inzwischen „Kontaktbögen“. Es ist der Blick hinter die perfekte Foto-Kulisse, der dabei reizt. Im großen Magnum-Band kann man diese Lust des Voyeurs nun nicht nur an den Ikonen und den für sie verworfenen Nebenbildern der offiziellen Welthistorie befriedigen. Es gibt außer Kriegen, Kennedy, Mauerfall oder Nine-eleven auch (scheinbar) Privates, fast Intimes und Kurioses: von den Beatles bis zu japanischen Gangstern oder der wunderbaren Geschichte, wie Inge Morath auf dem New Yorker Times Square ein Lama in einem Taxi fotografierte. Zwar ist auch das Analoge hier inszeniert, aber es hat noch den Zauber einer tieferen Analogie.
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