Wo Herta Müller zur Welt kam: Ein Besuch in Nitzkydorf
„Eine Kiste, in der man geboren wird, heiratet, stirbt“: Nitzkydorf oder Nitchidorf - so heißt der rumänische Geburtsort der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Unseren Kollegen hat es zufällig dorthin verschlagen: Im Kulturhaus wird gerade Kirchweih gefeiert - und einer sagt, er sei Herta Müllers Cousin.
Wenn Herta Müller sich an ihr Heimatdorf im rumänischen Banat erinnert, in Gesprächen, Essays oder Erzählungen, befindet sich dieses immer am Rand der Welt. Es ist ein Dorf, das „abgeschottet ist, so weit weg von der Welt“, das „wie eine Kiste in der Landschaft steht“, eine Kiste, „in der man geboren wird, heiratet, stirbt.“ Ein Blick auf die Landkarte zeigt aber zunächst etwas anders: Nitchidorf, wie Müllers Geburtsort auf Rumänisch heißt, oder Nitzkydorf, wie die Banatschwaben ihn nennen, liegt nur 30, 40 Kilometer östlich von Timisoara entfernt, oder zu deutsch Temeswar, der drittgrößten Stadt Rumäniens, einer der schönsten des Landes. Auch die südwestlich gelegene Kleinstadt Lugoj mit ihren 45 000 Einwohnern ist nicht übermäßig weit weg.
Fährt man jedoch mit dem Auto auf der Straße 592 von Lugoj nach Nitchidorf, relativiert sich diese Nähe schnell. Durch Orte wie Sinersig, Bucias, Bacova und Cheveresu Mare geht es, vorbei an großen Feldern, die weite Blicke in eine hügelige Ferne gestatten, die aber auch schon mal durch einen unvermittelt auftauchenden riesigen Schrottplatz voneinander getrennt werden. Allein die Überquerung einiger unbeschrankter Bahnübergänge mutet abenteuerlich an. Schritttempo ist fast zu schnell. Gut eine Stunde braucht es für die 45 Kilometer von Lugoj; selbst die letzten vier Kilometer zwischen dem Dörfchen Vucova und Nitchidorf ziehen sich. Man hat das Gefühl, in eine seltsame, immer entferntere Abgeschiedenheit zu fahren.
Einmal angekommen, wirkt Nitchidorf jedoch groß und weitläufig, mit seinen schnurgeraden, jeweils im rechten Winkel aufeinander zulaufenden Straßen, den breiten Fußwegen, den exakt auf einer Linie stehenden flachen Häusern. Das Elternhaus von Herta Müller anschauen, den von ihr nicht sehr geliebten Heimatort durchstreifen – all das ist nicht in ein paar Minuten getan, dafür braucht es Zeit. Und Ortskenntnis. Vor der Bar des Ortes, unweit der beiden Kirchen, der römisch-orthodoxen und der römisch-katholischen, sitzen ein paar Männer. Sie zucken mit den Schultern, niemand von ihnen hat den Namen Herta Müller schon einmal gehört. Die Männer zeigen auf das Kulturhaus schräg gegenüber, wo viel mehr los ist.
Hier steht tatsächlich eine Reihe von Autos, nicht wenige mit deutschen Kennzeichen, Augsburg, Heidelberg, VillingenSchwenningen, auch ein großer Reisebus aus Deutschland; an drei Masten wehen sanft die rumänische, die deutsche und die Flagge der EU. Jüngere Menschen mit roten T-Shirts, auf denen hinten „Warjascher Spatzen“ steht, laufen aufgeregt hin und her, Frauen und Männer in Freizeitkleidung, aber auch in Trachtenkleidern oder in weißen Hemden und schwarzen Hosen, mit einem Bierbecher in der Hand.
An diesem heißen Augustnachmittag wird das 230-jährige Jubiläum des Dorfs gefeiert. Es hat einen Tag vorher schon begonnen, in Anwesenheit des für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten zuständigen Bundestagsabgeordneten Hartmut Koschyk, und wird nun mit der Kirchweih fortgesetzt. Organisiert wurde das Fest von der Gemeinde Nitchidorf, vor allem jedoch von der Landsmannschaft der Banater Schwaben, der in Augsburg ansässigen Heimatortgemeinschaft Nitzkydorf, die im Übrigen sowieso alle zwei Jahre eine feierliche Reise in die alte Heimat unternimmt.
Vor dem Eingang des Kulturhauses spreche ich einen der Männer im weißen Hemd und mit schwarzer Hose an und frage ihn nach dem Herta-Müller-Haus. Er reagiert höflich und zugewandt, aber auch etwas überrascht: „Das Haus von den Müllers, ja, das kann ich Ihnen zeigen. Aber wo kommen Sie denn her?“ – „Aus Lugoj, eigentlich aus Berlin, ich mache gerade Urlaub in Rumänien und war in Sibiu auf einer Hochzeit.“ – „Sie meinen Hermannstadt. Und kennen Sie Herta Müller persönlich?“– „Ich habe sie einmal interviewt, kurz bevor sie den Literaturnobelpreis bekommen hat“. – „Aaaah, das trifft sich gut...“, sagt er und stellt sich vor: „Horst Köhl, der Name ist leicht zu merken, ich bin ein Cousin von ihr“. Sein Urgroßvater und Herta Müllers Großvater seien Brüder gewesen. Sie kam in die achte Klasse der Nitzkydorfer Schule, als er eingeschult worden ist. „Sie ist dann ja sehr schnell in die Stadt gegangen, nach Temeschburg“.
Auf die Frage, ob Herta Müller auf die Jubiläumsfeier eingeladen worden sei, antwortet Köhl: „Natürlich!“. Sie konnte aber nicht kommen und habe einen Brief geschrieben. Ganz kurz erwähnt er, dass das Verhältnis zwischen ihr und der Landsmannschaft nicht immer einfach gewesen sei. Aber man nähere sich an. Ob dem wirklich so ist? In ihrem 2014 veröffentlichten Gesprächsbuch „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ hat Müller über ihre höchst problematische Beziehung zur Landsmannschaft Auskunft gegeben: „Sie schwelgen bis heute in einem abstrakten Heimatbesitz aus der Ferne.“ Die Verstrickungen mit der Securitate, dem rumänischen Geheimdienst, sind nie aufgearbeitet worden, davon ist Müller überzeugt. Die seien eben „fürs Heimatalbum ziemlich peinlich. Darüber wird in der Landsmannschaft seither geschwiegen.“
Horst Köhl zeigt mir den Weg zum Haus und lädt mich ein, wiederzukommen, auf ein Getränk. Allerdings nicht auf ein Bier, denn: „In Rumänien gelten 0, 0 Promille!“.
Schlagartig wird es die Straße herunter wieder ruhig. Ein paar Hühner kreuzen den Weg, in den Seitenstraßen, die nicht gepflastert sind und an deren Ende Brunnen stehen, laufen kleine Hunde bellend herum. Das Elternhaus von Herta Müller steht ziemlich am Ende des Orts. Wie so manches andere Haus hier wirkt es abweisend mit seinen heruntergelassenen Läden, unbewohnt (was nicht stimmt, eine pensionierte Lehrerin soll hier wohnen). Es ist in einem schmutzigen Rosa gestrichen, an der Seite zur Hauptstraße hin hat man eine kleine bronzene Tafel angebracht. Darauf steht in rumänischer Sprache, dass die Schriftstellerin Herta Müller am 17. August 1953 hier geboren wurde und dass sie im Jahr 2009 den Literaturnobelpreis bekommen hat.
Bei ihrer Dankesrede sagte Müller damals in Stockholm, dass sie in die Stadt und aufs Gymnasium „nur gegen den Willen meiner Mutter“ gekommen sei: „Alle Dorfleute lebten in einer alten Zeit, wurden schon alt geboren. Man muss das Dorf irgendwann verlassen, wenn man jung werden will, dachte ich. Im Dorf waren alle vor dem Staat geduckt, aber untereinander und gegen sich selbst kontrollwütig bis zur Selbstzerstörung.“
In der Stadt, im heutigen Timisoara, hatte es Müller dann aber nicht viel leichter. Sie schloss zwar Freundschaften, mit jungen Dichtern der „Aktionsgruppe Banat“ – „ohne sie hätte ich keine Bücher gelesen und keine geschrieben“ –, war aber ständigen Nachstellungen des Geheimdiensts ausgeliefert und musste die Repressalien der Securitate erleiden. Wovon fast jeder ihrer Romane erzählt, von „Herztier“ bis „Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet“. 1987 reiste Müller zusammen mit ihrer Mutter nach West-Berlin aus. Dabei wurde ihr schon im Übergangsheim in Nürnberg von der Landsmannschaft bedeutet: „Die deutsche Luft bekommt Ihnen nicht gut.“ Tür an Tür mit dem BND befand sich das Büro der Landsmannschaft, und ausgerechnet Müller wurde verdächtigt, eine Agentin der Securitate zu sein.
Spaziert man ein wenig länger durch das Dorf, bekommt man den Eindruck, dass es hier zwei sehr unterschiedliche Welten gibt, besonders an diesem Tag. Die Dorfbewohner, die vereinzelt in den Straßen und vor ihren Häusern zu sehen sind, und die Menschen, die im Zentrum des Ortes, wo sich das Kulturhaus, die Schule, die römisch-katholische Kirche und das Denkmal für die Gefallenen der beiden Weltkriege befinden, das 230-Jahres-Jubiläum und die Kirchweih feiern – eben die Landsmannschaft aus Deutschland mit ihren Tanzgruppen aus Temesvar oder Warjasch, die verbliebenen Deutschstämmigen aus den umliegenden Dörfern.
In Müllers Debüt über ihr banatschwäbisches Dorf, in „Niederungen“ heißt es: „Seitdem das Dorf immer kleiner wird, weil die Leute, wenn nicht nach Deutschland, dann wenigstens in die Stadt abwandern, werden die Kerweihfeste immer größer und die Trachten immer festlicher (…) Da jede Kerweih in jedem Dorf an einem anderen Sonntag stattfindet, gehen alle Kerweihpaare aus einem Dorf vor oder nach ihrer eigenen Kerweih (…) auch zur Kerweih im Nachbardorf, was im Dorf mithalten genannt wird. Da aber im Banat alle Dörfer Nachbardörfer sind, beteiligen sich an allen Kerweihfesten dieselben Paare, dieselben Zuschauer und dieselbe Musikkapelle.“
Zurück im Kulturheim, beim Mineralwasser mit Horst Köhl, erzählt der Cousin, dass in Nitchidorf nur noch wenige Banatschwaben leben, das Dorf überhaupt nur noch zwischen 1400 und 1500 Einwohnern zählt. Mit denen sei Bürgermeister Ioan Mascovescu nicht sehr zufrieden: „Die meisten der Neu-Zugezogenen kommen aus dem Osten Rumäniens. Sie können es nicht. Sie bekommen es wirtschaftlich nicht hin, haben dafür kein Gespür“, so Köhl. Eine Aussage, die man im Westen des Landes oft zu hören bekommt, auch von ansässigen Rumänen.
Im Festsaal, in dem die Blasmusikkapelle der Banater Schwaben gerade zum Tanz aufspielt, stellt mir Köhl, der auch Schriftführer der Heimatortsgemeinschaft Nitzkydorf ist, den Kassenwart des Vereins vor. Und die Vorsitzende, Hella Gerber. Sie trägt eine weißgrüne Tracht und fordert mich freundlich auf: „Bleiben Sie doch zum Essen!“ Dann ruft sie jemand anderem zu, dass man langsam die anderen Dorfbewohner zum Fest holen könne.
„Grüßen Sie die Herta Müller von mir, wenn Sie wieder in Berlin sind“, sagt Horst Köhl beim Abschied. Na klar, gern. Dass sie eine Einladung bekommen habe, bestätigt Herta Müller am Telefon. Sie habe aber ohne Angabe von Gründen abgesagt, auch kein Grußwort geschrieben. Kontakte zwischen ihr und der Landsmannschaft gebe es nicht. Einen jüngeren Cousin mit Namen Köhl kennt sie nicht, „den Namen Köhl gab es im Dorf häufig“. Nur an einen älteren Köhl erinnert sie sich. Dem habe sie einst einen Wecker zum Reparieren gebracht. Vermutlich ist dieser Köhl der „Uhrmachertoni“ aus ihrem Roman „Herztier“. Dort heißt es, als das Kind den Wecker wieder abholen möchte: „Der Uhrmachertoni wirft zwei Hände voll Wecker in eine Schüssel und sagt: Mit dieser Maschine ist es aus.“
Herta Müller fügt noch hinzu, dass weitläufig verwandtschaftliche Beziehungen durchaus möglich seien, denn „mein Großvater hatte ja 15 Geschwister!“. Doch ihre Verwandtschaft habe sich nach der Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis „auf wundersame Weise vermehrt“. Laut lachend verabschiedet sie sich mit einem rumänischen Sprichwort: „Wenige sind wir gewesen, viele sind wir geblieben.“
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