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Nur ein Vogelwart lebt hier. Die Insel Scharhörn (rechts) in der Elbmündung, Schauplatz von Timms Roman. Links Nigehörn.
© IMAGO

Neuer Roman von Uwe Timm: Ehebruch und Einöde

Kann die Liebe heilig sein? In seinem neuen Buch "Vogelweide" erzählt Uwe Timm von einem gescheiterten Unternehmer, der sich als Vogelbeobachter auf eine Insel zurückzieht. Der Roman wirkt wie ein Plädoyer für lebenslange Bindungen.

Wie sieht es aus, das gute Leben? Müssen wir planen, ordnen, strukturieren? Oder könnten wir uns auch einfach dem Augenblick hingeben, unseren Wünschen folgen, unseren Lüsten und Begierden? Es ist ein altes Menschheitsthema, seit der Antike eine der Antriebskräfte der Philosophie und in jüngster Zeit der Dauerbrenner von Ratgebern, die sich die Sache meist zu einfach machen. Nach dem Motto, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, bürden sie dem Einzelnen die Selbstoptimierung seines Körper- und Seelenheils auf. Die gesellschaftlichen Bedingungen bleiben dabei wohlweislich außer Acht oder werden als unabänderlich vorausgesetzt. So treiben wir Yoga, joggen durch die Gegend, kaufen uns Abos fürs Fitnessstudio, klettern auf Berge, meditieren vor uns hin. Und manchmal dämmert uns, dass wir nichts anderes sind als unermüdliche Rädchen im Getriebe des Konsums.

In seinem neuen Roman greift Uwe Timm dieses Thema auf und bringt beide Seiten auf wohltuend kluge Weise zusammen: das Räderwerk einer vom Optimierungswahn befallenen Gesellschaft und die individuelle Suche nach dem Glück. Dazu setzt er seinen Helden, er trägt den sprechenden Namen Christian Eschenbach, allein auf eine Insel. Sie liegt nicht irgendwo in exotischer Ferne, sondern in der Elbmündung. Scharhörn heißt sie, und der gestrauchelte Held lebt dort seit einem halben Jahr als Vogelwart. Seine Software-Firma ging am selben Tag in Konkurs, an dem ihm die Geliebte mit einem abschließenden „Endgültig“ per Anrufbeantworter den Laufpass gab. Zu Beginn des Romans ist das sechs Jahre her.

Nun hat Anna, die mittlerweile in Los Angeles lebt, ihren Besuch angekündigt. Ein Bauer wird sie mit der Pferdekutsche bringen, was Uwe Timm am Ende des Romans zu einer aparten Anspielung auf „Madame Bovary“ ausbaut. Die Tage bis zu ihrer Ankunft bilden die Rahmenhandlung des Romans, Eschenbachs ebenso freudige wie besorgte Erwartung den Unterstrom. Wie in seinem Roman „Halbschatten“ inszeniert Timm die Handlung auch hier als Chor der Geisterstimmen. Nur geht es in „Vogelweide“ nicht um die deutsche Geschichte, sondern um etwas, was vergleichsweise banal erscheint: einen Ehebruch über Kreuz nach dem Modell der „Wahlverwandtschaften“.

Geht das? Kann man nach Goethe, Tolstoi, Flaubert und Fontane tatsächlich noch einmal einen Ehebruchsroman schreiben? Und vor allem: kann man das in diesen Zeiten, in denen Politiker nahezu aller Parteien daran arbeiten, die Ehe als ein Bündnis auf Zeit zu legitimieren, kündbar wie ein Mietvertrag, den man auflöst, sobald man meint, einen besseren Partner gefunden zu haben?

Nach Arno Geiger hat nun der bekennende Alt-68er Uwe Timm einen Roman geschrieben, der sich als Plädoyer für die lebenslange Ehe verstehen lässt – oder, genauer: als eine ernsthafte Nachfrage, ob es nicht Gründe dafür geben könnte, die Ehe für „etwas Heiliges“ in „dieser heillosen Welt“ zu halten, wie es Anna mit der ihr eigenen Verve formuliert. Während er allein auf seiner Insel sitzt, Vögel beobachtet, an einem lange aufgeschobenen Essay über den alttestamentarischen Jonas arbeitet sowie Fallgeschichten sichtet, die er kurz nach seinem Bankrott für ein Meinungsforschungsinstitut gesammelt hat – in dessen Leiterin, die Glück und Begehren berechenbar machen will, sich unschwer Elisabeth Noelle-Neumann erkennen lässt –, suchen ihn die Erinnerungen heim.

In einzelnen Textblöcken erzählt Timm, was mit Eschenbach und Selma, Anna und Ewald geschah, nicht chronologisch, sondern in harten Schnitten und großen Sprüngen. Oft sind es dialogische Arrangements, die wie Inseln im Erzählfluss liegen. Sie spielen bei Einladungen, in Bars und Restaurants, auf Vernissagen, bei einem Segeltörn, in Selmas Werkstatt (sie ist Silberschmiedin) und natürlich auch in Betten und der freien Natur.

Eine reizvolle Form, die vom Leser hohe Konzentration verlangt. Der stete Wechsel zwischen der ruhigen, sehr präzisen Sprache der Insel-Passagen und den eher flatterhaften Dialogszenen aus Eschenbachs altem Leben ist von zusätzlichem Reiz. Wer allein auf einer Insel lebt, Vögel beobachtet und ihr Verhalten protokolliert, Zivilisationsmüll einsammelt und in seiner Hütte schreibt, der denkt anders als einer, der sich in der Berliner Gesellschaft bewegt, wo sich Christian Eschenbachs früheres Leben abspielte.

Die offene, fein austarierte Form erlaubt es Uwe Timm, Diskursschnipsel zu bewegen, die zurzeit die Debatte bestimmen: von der Wiederentdeckung des Handwerks, der Neuentdeckung von Natur, dem Reparieren als Widerstand gegen den Zwang ständigen Konsumierens, der Frage nach der Notwendigkeit des Aufstands, der Überlegung, ob man in Staaten wie China einfach investieren darf (Ewald ist Architekt und plant dort ein großes Projekt, streng verurteilt von seiner Frau Anna, die als Lehrerin für Latein und Kunst arbeitet), bis zur Liebe in den Zeiten des Internets, das die Partnersuche optimiert und den entscheidenden Augenblick, den Kairos als Beginn einer Paargeschichte nicht mehr kennt.

In einem Gespräch mit der „Norne“ genannten Leiterin des Meinungsforschungsinstituts plädiert Eschenbach, studierter Theologe und durch die Liebe zu Anna gewissermaßen „romantisiert“, der hypnotische Augenblick der ersten Begegnung sei nötig, um ein Paar auch Durststrecken überstehen zu lassen. Sie antwortet darauf schlicht, Ehen seien heute nicht mehr auf Dauer angelegt, also spiele das keine Rolle.

Weil er die Fäden immer wieder aufgreifen und neu zusammenzwirnen kann und die Gegenwartsszenen subtil mit literarischen Motiven unterlegt, entgeht Uwe Timm der Gefahr des Diskursromans. Seine Figuren sind ebenso eigenwillig wie typenstark, vor allem die beiden Frauen, die zärtlich nachgiebige Selma, die sich auch eine Liebe zu viert vorstellen kann, um alle glücklich zu machen, und die von „moralischer Entschiedenheit“ beseelte Anna, eine „Empörte“, wie es einmal heißt, die sich nicht nur über andere empören kann, sondern auch über sich selbst. Es ist nicht Ewald, der sich nach ihrem Geständnis des Ehebruchs von ihr abwendet. Sie selbst findet es „unwürdig“, dass sie sich heimlich mit Eschenbach traf, und zieht, ohne die Ehe zu lösen, mit ihren beiden Kinder zum Bruder in die USA (wo sie ohne Weiteres neue Beziehungen eingeht).

„Vogelweide“ ist ein fragender, ein tastender Roman, der uns keine Meinung aufdrängt. Seine Haltung ist philosophisch, er regt uns zum Nachdenken an, während er uns eine Geschichte voller schöner Widersprüche erzählt. Er nimmt die Erlösungssehnsüchte der Hamsterradbewohner ernst, nicht umsonst steckt er voller religiöser Motive, aber er gibt zu bedenken, das sie mit ihren Selbstfindungs- und Optimierungsexerzitien womöglich an den falschen Stellen suchen. In einer Gesellschaft, die an der Auflösung von Solidaritäten aller Art arbeitet, kann es ein revolutionärer Akt sein, an lebenslangen Bindungen festzuhalten. Gut, dass dieser Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht.

Uwe Timm:

Vogelweide. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2013.

336 Seiten, 19,99 €.

Meike Feßmann

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