Kultur: Egal, was die anderen sagen
Vier Menschen am Rande des Abgrunds: Nick Hornbys neuer Roman „A Long Way Down“
Man muss ein ziemlich dickes Fell haben, um das Leben in gewissen Phasen nicht als Zumutung zu empfinden. Selbst gefestigte Charaktere schlucken dann in Gedanken drei Packungen Schlaftabletten, stürzen sich von einer Brücke oder fahren mit dem Auto gegen eine Häuserwand. Der suizidale Impuls kann zum Glück meistens unterdrückt und die akute Depression in eine ganz normale Lebensmelancholie umgewandelt werden. Maureen, Martin, Jess und JJ allerdings sind tatsächlich am Ende. Glauben sie zumindest.
Alle vier haben in ihrer Verzweiflung die Idee, sich an Silvester vom Dach eines Londoner Hochhauses zu stürzen. Wie es der Zufall will, suchen sich die vier Selbstmordaspiranten zur Umsetzung ihres Vorhabens das selbe Hochhaus und die selbe Uhrzeit aus. Da sind diese einander fremden Menschen nun versammelt, halten sich gegenseitig vom Springen ab und schließen einen Pakt: Bis zum Valentinstag wollen sie sich Aufschub gewähren und die Sache noch einmal überdenken. So entsteht eine ziemlich kuriose Selbsthilfegruppe.
Das ist die viel versprechende Ausgangssituation von Nick Hornbys neuem Roman „A Long Way Down“. Hornbys Bücher wimmelten immer von depressiven Charakteren, die allerdings durch ihre Leidenschaften (Fußball oder Popmusik) oder Idiosynkrasien (gegnerische Fußballmannschaften oder schlechte Popmusik) ihrem meist eher dahinplätschernden Leben einen Sinn zu geben verstanden. Der Verdacht war nie von der Hand zu weisen, dass diese zu ungetrübter Identifikation einladenden Figuren – man denke nur an Rob Fleming in „High Fidelity“ – mehr oder minder Nick Hornbys Doppelgänger waren.
Wenn man sich den Werdegang des Kultautors anschaut, wundert man sich nicht mehr: Hornby begann als gescheiterter Lehrer und abgewiesener Musikjournalist, dessen literarische Schreibversuche erst einmal ins Nichts führten. Mit Anfang dreißig kann einen das in eine riesige Depression stürzen. Als Hornby zu dieser Zeit die Sitzungen bei seiner Therapeutin immer mit denselben Fußballerwitzen eröffnete, war das der Anstoß zu seinem ersten Buch „Fever Pitch“, das sich dem Gefühlshaushalt eines Arsenal-Fans widmet. Die Literatur als Fortsetzung der Therapie mit anderen Mitteln. Das hat gut funktioniert. Die Leser entdecken ihren Alltag wieder, und Nick Hornby balanciert unerschrocken auf der schmalen Linie zwischen Sozialkitsch und ambitionierter Gegenwartsdiagnose und tummelt sich mittlerweile als Schriftsteller-Star unter Stars.
JJ ist eine Hornby-Figur in Reingestalt, ein weiteres Alter ego. Er wäre gerne ein Rockstar. Allerdings hat sich seine Band gerade aufgelöst, seine Freundin hat ihn verlassen, nun muss er als Pizzabote sein Brot verdienen. Martin war immerhin mal Moderator beim Frühstücksfernsehen. Dann hat er mit einer 15-Jährigen geschlafen, und Schande, Verstoßung und Gefängnis waren die Folgen. Job weg, Ruf weg, Frau und Kinder weg – da kann einem der Freitod schon mal als Alternative erscheinen.
Maureen aber hat wirkliche Probleme: Seit 19 Jahren kümmert sie sich um ihren behinderten Sohn, der ohne Bewusstsein vor sich hin vegetiert. Sie fühlt sich wie in einem Gefängnis aus schlechtem Gewissen und Mutlosigkeit. Jess, die Jüngste in der Runde, hat Liebeskummer. Und überhaupt ist die Politikertochter – ihr Vater ist Vertreter von New Labour und Erziehungsminister – ziemlich durchgeknallt. Vom Dach springen ist bei ihr auf einer Ebene mit Drogen einwerfen und Shoppen gehen angesiedelt.
Hornby hält an seinem Erfolgsrezept fest: Die Figuren sind mit so vielen Macken ausgestattet und doch so liebenswert, so überzeichnet und doch so lebensnah, dass sich jeder Leser beim Abgleichen der Charaktere mit eigenen Eigenschaften wiederfindet. „A Long Way Down“ hat selbstverständlich Witz, die Dialoge sind pointensicher und funktionieren dank der routinierten Übersetzung von Clara Drechsler und Harald Hellmann auch im Deutschen. Die vier Erzähler – wir bekommen die verschiedenen Sichtweisen der Helden abwechselnd in kurzen Monologen vermittelt – haben je einen eigenen Ton und bleiben der Alltagssprache treu.
Hornby hat vielleicht keine allzu großen literarischen Feinheiten auf Lager; diesen schnoddrigen Tonfall aber hat er drauf. Die Schwere des Themas wird durch den Hang zum Spaßigen abgefedert. Und vor eher unbescheidenen Weisheiten in bescheidenem sprachlichen Gewand gibt es keine große Scheu: „Was ich mir klarmachte, war: Ich hatte mich nicht umbringen wollen, weil ich das Leben hasste, sondern weil ich das Leben liebte. Ich glaube, in Wahrheit empfinden viele Menschen, die an Selbstmord denken, das genauso. Ich glaube, dass Maureen, Jess und Martin auch so empfinden. Sie lieben das Leben, aber ihres ist total im Arsch - deswegen habe ich sie dort getroffen, und deswegen leben wir alle noch.“ Natürlich geht auch dieser Roman auf irgendeine Weise gut aus. Was Besseres als den Tod finden Maureen, Martin, Jess und JJ überall.
Bis es soweit ist, haben sie ein paar kleine Abenteuer zu überstehen, die eigentlich nicht weiter von Belang sind, außer dass sie genügend Gelegenheit zu Situationskomik liefern. Bei Hornby kommt noch das Erschrecken vor dem Leben mit einer fast penetranten Leichtigkeit daher. Das macht ihn zu einem auch von Nichtlesern gelesenen Autor. Bei ihm ist der triviale und nicht selten schmerzhafte Alltag zwar präsent, aber auf eine sehr verträgliche Art. Hornby, hat Hubert Winkels einmal geschrieben, „bietet Halt, Übersicht, Ordnung, Entfaltung“ – der 48-jährige Brite ist wahrscheinlich ziemlich menschenfreundlich. Deshalb schreibt er schöne, ein wenig berechenbare, gutmütige Unterhaltungsromane mit Anspruch.
Das vorangestellte Motto, von der amerikanischen Erzählerin Elizabeth McCracken geborgt, muss also sehr ernst genommen werden: „Das Beste gegen Unglücklichsein ist Glücklichsein, und es ist mir egal, was die anderen sagen.“
Nick Hornby: A Long Way Down. Roman. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 342 Seiten, 19,90 €.
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