Junge Dirigenten: Dynamisch, sportlich, gut
Kinder einer freieren Zeit: Eine junge Dirigentengeneration drängt an die Pulte der Star-Orchester.
Just als die „Titanic“ 1912 unterging, wurden der Moderne, wie zum Trost, sechs legendäre Dirigenten geboren: Sergiu Celibidache, Igor Markewitsch, Erich Leinsdorf, Kurt Sanderling, Georg Solti und Günter Wand. Außer Sanderling, heute 97, sind alle tot. Wer wissen möchte, was diese Künstler jenseits ihres Jahrgangs eint, der klicke sich durch YouTube oder höre ihre zahlreich hinterlassenen CDs. Die Diagnose dürfte trotzdem schwer fallen: Exzentrik ist nichts, was verbindet. Und derjenige, der vor anderen erhöht auf einer Kiste steht, der Maestro, der Halbgott in schwarz, stößt schon qua Profession schneller mit dem Kopf an den Himmel. Das Dirigentenpult, hat Claudio Abbado einmal gesagt, sei eine „Insel der Einsamkeit“.
Wenn Tugan Sokhiev heute Abend bei den Berliner Philharmonikern debütiert, geht es wieder um Einsamkeit und Exzentrik. Viel hat sich am Berufsbild in den vergangenen 100 Jahren nicht geändert. Im Zweifelsfall sind die Jungen 2010 handwerklich wie vom Repertoireverständnis her besser trainiert, vielseitiger und flexibler als die meisten ihrer Vorbilder. Und natürlich spielt hinter den Kulissen dieses Debüts auch ein Stück hauptstädtische Musikpolitik: Wäre Sokhiev der Richtige für das nur knapp dem Spar-Hackebeil entronnene Deutsche Symphonie-Orchester? Anfang Dezember hat der Russe, 1977 in Nord- Ossetien geboren, in Sankt Petersburg ausgebildet und seit 2008 Chef in Toulouse, seine Visitenkarte als möglicher Nachfolger von Ingo Metzmacher beim DSO abgegeben. Die von der Roc-GmbH losgetretenen, peinlichen Verwerfungen um die Zukunft des Orchesters scheinen auf seine „Bewerbung“ keinen Schatten geworfen zu haben, ganz im Gegenteil.
Vor allem aber stellt sich die Frage (pars pro toto und nicht nur für Berlin), wen oder was man mit einem 32-jährigen Musiker eigentlich verpflichtet. Ein singuläres Talent? Einen geborenen Globalisierungskünstler? Einen Shootingstar, der rasch verglüht? Oder vielleicht doch eher einen Vertreter der bis heute vom Eisernen Vorhang profitierenden russischen Schule? Die Antwort mag so lapidar wie überraschend ausfallen: Wer Sokhiev holt, nimmt eine Generation unter Vertrag. Eine Generation der gläubigen Individualisten: bodenständig, ehrgeizig, fleißig, neugierig – und demütig.
Wundersam, aber wahr: Was in der Neuen Musik, bei den Komponisten, nur zu gerne in eitle Ich-Sagereien ausartet, der Utopieverlust, der Zusammenbruch der großen Gesellschaftssysteme und Ideologien, was viele Solistenstars zunehmend in seichte und seichteste Gefilde lockt, das führt ausgerechnet bei den Dirigenten 20 Jahre später (die klassische Musik war schon immer etwas behäbiger) zur Rückbesinnung: auf die Partituren und deren sorgsame Lektüre. „Das Wesentliche ist die Musik“, mit diesem Slogan wirbt Marek Janowski seit Jahren für seine Arbeit mit dem Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester (RSB), und würde der Maestro, demnächst 71, nicht so grimmig von den Plakaten herunter grüßen, man wäre geneigt, ihn als einen der ersten mit ins neue alte Boot zu holen. Manchmal ist Zukunft einfach das, was immer schon so und nie anders war.
Auch einem vermeintlich konservativen, pathosseligen Geist wie Christian Thielemann, 50, dürfte diese Entwicklung passen. Wer bereits etwas von seinem Beethoven-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern hat hören können (im Dezember 2010 gastieren sie in Berlin), der sollte sich das mit dem Pathos und dem Bräsig-Dionysischen à la Furtwängler allerdings noch einmal überlegen. Auch Klischees haben Halbwertzeiten.
Die Jungen also. Der Venezolaner Gustavo Dudamel etwa, 28, von Daniel Barenboim und Simon Rattle protegiert, hat gerade das Los Angeles Philharmonic Orchestra übernommen und jettet ansonsten zwischen Caracas und Göteborg hin und her (Europa muss sein!), wo er das ortsansässige Symphonieorchester führt: Typus sinnenfroher Heilsbringer für müde Bildungsbürger, urwüchsig-musikantisch, der „Obama der Musik“, wie die US-amerikanische Regenbogenpresse gerne titelt. Oder Andris Nelsons, 31 und aus Riga gebürtig, russisch-finnische Schule, Ziehsohn von Mariss Jansons, leitet seit 2008 – nach Lehrjahren im kleinen Herford – das City of Birmingham Symphony Orchestra (das auch Rattle einst zu Weltruhm verhalf) und gibt diesen Sommer mit „Lohengrin“ sein Bayreuth-Debüt: zweifellos der Charismatischste von allen, ein geradezu beängstigender Ekstatiker am Pult. Oder Cornelius Meister, 29, und Philippe Jordan, 35 (zur Frage nach dem deutsch- sprachigen Nachwuchs): Der eine, Hannoveraner und ausgebildeter Pianist, wurde 2005 zu Deutschlands jüngstem Generalmusikdirektor nach Heidelberg berufen und bekleidet ab September zusätzlich das Amt das Chefdirigenten und Künstlerischen Leiters beim existenzbedrohten Wiener Radio-Symphonieorchester; der andere, in Zürich geboren, verantwortet nach Assistenzjahren bei Barenboim an der Lindenoper und einem Flop in Graz seit dieser Spielzeit die musikalischen Geschicke an der Opéra Nationale von Paris. Beide gelten als ausgesprochen gewissenhaft, ja penibel.
Diese kleine Liste ließe sich ohne Mühe verlängern: Um den Briten Daniel Harding beispielsweise, 34, derzeit beim Mahler Chamber Orchestra sowie in Stockholm tätig, den man gerne unter die etwas Älteren zählt, einfach weil es seine ruppigen Klangvorstellungen in der Branche schon so lange gibt. Oder um Alan Gilbert, der mit 42 Jahren in der Tat schon älter ist und nach Jahren beim NDR in Hamburg erst jetzt so recht auf sich aufmerksam macht, als Nachfolger von Lorin Maazel bei den mimosenhaften New Yorker Philharmonikern (mit denen er Ende Januar auch in Deutschland zu hören sein wird).
Und Kirill Petrenko, 37, dem sicher Großes bevorsteht, ebenso wenig zu vergessen wie den sportiven Kanadier Yannick Nézet-Séguin, 34, der 2008 bei den Salzburger Festspielen seinen Durchbruch feierte, oder den jüngsten Spross der Järvi-Dynastie, good looking Kristjan, Jahrgang 1972. Das weibliche Geschlecht übrigens in Gestalt der Estin Anu Tali, 37, oder der 40-jährigen Susanna Mälkki aus Finnland liegt, was Karriere und Positionen betrifft, nach wie vor böse im Hintertreffen.
Sie alle mögen so unterschiedlich sein wie Celibidache, Sanderling & Co. es waren. Mal mehr, mal weniger fotogen, mal einsilbiger, mal eloquenter, scheuer oder arbeitswütiger. Was sie eint und interessant macht, ist der Blick zurück in die ökonomisch saturierte, ideologisch aufgeladene zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Karajanesker Luxussound hier, aufführungspraktisches Körnermahlen mit Nikolaus Harnoncourt da: Die Früchte dieses letztlich bis Furtwängler und Toscanini, ach was, bis Wagner und Mendelssohn zurückreichenden ästhetischen Antagonismus hat man genossen – und spätestens im Krisenjahr 2010 restlos verdaut.
Dass junge Dirigenten wieder gerne musizieren und dafür weder Mehlschwitze brauchen noch archäologische Doktorgrade, lässt hoffen. Auf persönliche Klugheit und Zeitfühligkeit, auf eine Generation, die, wenn es hart auf hart kommt, sehr wohl existenziell sein kann, wach, bescheiden und, ja, einfach. Und die so auratische Figuren wie den erst 26-jährigen Londoner Robin Ticciati hervorbringt, Geiger, Pianist, Schlagzeuger, Dirigent, gerade zum Leiter des Scottish Chamber Orchestra erkoren und demnächst erster Gast bei den Bamberger Symphonikern. Nicht nur dank Wuschelkopf und Grübchen die perfekte Mischung zwischen Harry Potter, Robinson Crusoe und einem Botticelli-Engel, der verrückterweise vom 21. Jahrhundert träumt. Wenn das kein Trost ist.
Gustavo Dudamel (28)
Andris Nelsons (31)
Cornelius Meister (29)
Tugan Sokhiev (32)
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