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Ein Mädchen in einem Londoner Zug meint einem Verbrechen auf der Spur zu sein: "Girl on the train".
© Kerim Okten/epa

"Girl on the train" von Paula Hawkins: Drei Frauen in der Vorstadt

Eine aus dem Zug schauende Trinkerin fühlt sich zur Privatermittlerin beim Verschwinden einer Frau berufen: Der Krimi "Girl on the train" von Paula Hawkins glänzt durch Tiefe und Dynamik.

Rachel ist 30 und am Ende. Vom Zugfenster aus blickt sie auf ihr altes Leben, und weil sie dieses Leben sehr mochte, trinkt sie schon im Zug Gin Tonic, um die Schmerzen über den Verlust zu betäuben. Sie hatte einen Mann – und ein altes Haus mit Terrasse und Garten, das sie „geliebt“ hat, wie sie sagt, auch wenn es an der lauten Trasse für den Pendlerzug Ashbury-London-Eustonwie lag. Doch das alles ist weg: Ihr Mann lebt mit ihrer Nachfolgerin und einem Kind in dem geliebten Haus. Und ihren Job ist sie los, weil sie zu viel trinkt.

Die Londoner Journalistin Paula Hawkins beschreibt in ihrem ersten Kriminalroman dieses „Girl on the train“ kühl und mit viel Sinn für den Selbsthass, den Rachel empfindet, während sie im übervollen Pendlerzug nach London und zurück fährt, um vor ihrer Mitbewohnerin die Illusion aufrechtzuerhalten, sie verdiene Geld und werde ihre Mietschulden begleichen. Doch Rachels verträumt-versoffenes Aus-dem-Fenster-Gucken lässt sie zufällig etwas sehen, das sie meint, der Polizei berichten zu müssen. An der Bahntrasse wohnte auch, nur ein paar Häuser weiter, ein junges Paar. Nun wird die Frau vermisst. Rachel hatte beide oft beobachtet und für glücklich und verliebt gehalten – bis sie die junge Frau mit einem anderen Mann auf der Terrasse sah. Könnte der ihr etwas angetan haben?

Eine Geschichte, erzählt von drei Frauen

Rachel gerät in einen gefährlichen Strudel, als sie sich an die Polizei wendet. Kaum hat sie gesagt, was sie gesehen hat und vermutet, bekommt sie ein Glaubwürdigkeitsproblem – ihre Neigung zum flüssigen Trost ist ihr leicht anzumerken. „Den durchdringend bitteren Chinin-Beigeschmack liebe ich am meisten an einem kalten Gin-Tonic“, teilt sie mit. Oder: „Ich warte darauf, dass die Erinnerung wieder einsetzt. Manchmal braucht sie eine Weile. Manchmal kehrt sie schon nach Sekunden zurück. Manchmal bleibt sie ganz aus.“

Doch Paula Hawkins will mehr als nur einen Krimi über eine Trinkerin, die sich zur Privatermittlerin berufen fühlt. Deshalb erzählt sie die Geschichte auch aus der Perspektive von Megan – der scheinbar Glücklichen, die nun verschwunden ist – und aus der von Rachels Nachfolgerin Anna. Diese wundert sich darüber, warum die ihr verhasste Trinkerin in ihrer alten Wohnstraße herumirrt, am Gartenzaun auf die Terrasse starrt, auf der Annas kleine Tochter schläft. Und auch darüber, dass Rachel in Megans Haus deren Mann besucht.

Es klingt kompliziert, aber es funktioniert: „Girl on the train“ hat eine Tiefe und Dynamik, die drei sehr unterschiedliche Vorstadtfrauenleben blutig miteinander verbindet.

Paula Hawkins: Girl on the train. Du kennst sie nicht, aber sie kennt Dich. Deutsch von Christoph Göhler. Blanvalet, München 2015. 446 Seiten, 12,99 €.

"Girl on the train" von Paula Hawkins
"Girl on the train" von Paula Hawkins
© Blanvalet Verlag München/dpa

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