Nachruf: Dostojewski-Übersetzerin ist tot
Swetlana Geier hat innerhalb von 16 Jahre 4762 Seiten des russischen Autors Fjodor Dostojewski ins Deutsche übersetzt. Vergangenen Sonntag ist sie im Alter von 87 Jahren verstorben.
In Erinnerung bleibt die Überraschung, als Swetlana Geier in Günterstal bei Freiburg die Tür zu ihrem Haus öffnete. Eine so zierliche Frau hatte man nicht erwartet. Doch dann dieser Blick. Hell, offen, freundlich – „Ah, Sie haben an die Brötchen gedacht“, sagte sie. Eine Bedingung für den Besuch, die am Telefon vereinbart worden war: Mit einem Frühstück sollte der Tag beginnen, das Gespräch über ihr Lebenswerk, die Erfüllung eines großen Traums.
Vier Jahre liegt der Besuch bei der Übersetzerin Swetlana Geier nun zurück. Aus dem einen Tag sind damals drei geworden, an denen die 83-Jährige über ihre Leidenschaft, das Übersetzen und ihren, „literarischen Liebhaber“, Fjodor Dostojewski sprach. Gerade hatte sie die Neuübersetzung seiner Romane „Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“, „Böse Geister“, „Die Brüder Karamasow“ und „Der grüne Junge“ abgeschlossen. 16 Jahre, 4762 Seiten. Übertragungen, die Maßstäbe setzten.
Seit 1950 hatte Geier aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt. Tolstoj, Bulgakow, Sinjawskij, Solschenizyn, Platonov und Bunin. Diese Autoren seien für sie oft nur wie Milchsuppe gewesen. Dostojewski aber, sagte sie, der habe ihr Feuerwerke geschenkt. Für ihn wollte sie Zeit haben und widmete sich ihm ab 1988, nachdem sie als Dozentin und Lektorin für Russisch in Pension gegangen war. In Kiew geboren, erhielt Geier früh Deutsch- und Französischunterricht. Ihr Vater, ein Intellektueller, kam 1938 als „Volksfeind“ in Haft und starb ein Jahr später an den Folgen. Während des Zweiten Weltkriegs übersetzte die 19-Jährige für eine deutsche Firma. Kurz bevor die sowjetische Armee 1943 Kiew zurückeroberte, floh sie mit ihrer Mutter nach Deutschland, wo sie in Freiburg eine neue Heimat fanden.
Übersetzen war für Swetlana Geier immer nur Annäherung an das Original. „Sprachen sind nicht kompatibel“, sagte sie, jede Übersetzung sei ein Prozess, an dessen Ende nur etwas Neues stehen könne. Und somit auch die Erkenntnis über das eigene Unvermögen. Werktreue war ihr oberstes Gebot, obwohl sie wusste, dass jede Übersetzung Interpretation ist. Aber diesen nie zu überwindenden Abstand zwischen Original und Neuübersetzung so klein wie möglich zu halten, das war ihr Ziel. Sie wollte, dass Sprache klingt wie ein ganzes Orchester.
Am späten Sonntagabend ist Swetlana Geier in Günterstal im Alter von 87 Jahren gestorben. Bis zuletzt hatte sie an der Neuübersetzung von Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ gearbeitet. Ihr fehlten nur noch wenige Seiten bis zum Schluss.
Dirk Becker
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