Kultur: Dilemma des Ermittlers
Ortwin Ennigkeit, der einem Entführer Gewalt angedroht hat, wehrt sich gegen den Foltervorwurf.
Vor neun Jahren geschah in Frankfurt ein schreckliches Verbrechen. Ein elfjähriger Schulbub wurde auf dem Heimweg entführt. Tagelang bangten seine Eltern und Geschwister, die Polizei suchte fieberhaft nach dem Kind. Derweil machte sich der Entführer nette Tage. Er kassierte das Lösegeld, ging shoppen, bestellte ein neues Auto und plante eine Flugreise mit der Freundin. Schließlich wurde er von der Polizei festgenommen und verhört. Schnell wurde klar, dass er mehr wusste, als er zugab. Da die Uhr tickte, beschloss die Polizeiführung, dem Verdächtigen Schmerzen anzudrohen, damit er endlich das Versteck des Jungen preisgebe. Schließlich knickte der junge Mann ein und gab das Versteck bekannt. Freilich war das Kind längst tot.
Der Täter gestand später auch, wie er das Kind entführt und getötet hatte. Die Öffentlichkeit reagierte mit Abscheu. Doch dann die bizarre Wende. Ein kaltblütiger, verlogener Kindermörder wurde über Nacht zum Folteropfer. Sein cleverer Anwalt trommelte gegen die Polizisten, die dem jungen Mann Schmerzen angedroht hatten. Mitten in Deutschland wurde gefoltert! Solche Beamte gehörten entlassen, verklagt und verurteilt!
Ortwin Ennigkeit war der Polizist, der den Verdächtigen Magnus Gäfgen nach vier Tagen des Lügens und Ausweichens schließlich zum Reden brachte. Jetzt hat er über die fünf Tage der Suche nach dem Kind und über die späteren Folter-Ermittlungen gegen ihn und den Polizei-Vizepräsidenten Wolfgang Daschner ein Buch geschrieben. Ennigkeit und sein Chef, zwei erfahrene Ermittler, hatten damals unter enormem Druck gestanden, den entführten Jakob von Metzler zu finden. Schließlich rangen sie sich zur Gewaltandrohung durch, da sie annahmen, Jakob sei noch am Leben.
Das Buch stellt nicht nur im Untertitel die zentrale Frage: Wie weit darf man gehen, um das Leben eines Kindes zu retten? Beantwortet wird die Frage von Ennigkeit mit: Wir mussten tun, was wir taten. Offen bleibt, wie weit die Ermittler zu gehen gedachten. Das entscheidende Verhör brachte schließlich den Hinweis auf den Verbleib des Kindes, ohne dass Gewalt tatsächlich angewendet werden musste. Doch allein die Vernehmung wurde in den Medien als Folter angeprangert.
Der Autor – und viele Leser werden ihm zustimmen – verwirft den Begriff in diesem Zusammenhang. Schließlich wollte man kein Geständnis erpressen, sondern das Leben eines Kindes retten. „Daschner handelte ausschließlich im Bereich der Gefahrenabwehr, zur Rettung Jakobs …“, schreibt Ennigkeit und zitiert Daschners Vermerk: „Die Befragung des Gäfgen dient nicht der Aufklärung der Straftat, sondern ausschließlich der Rettung des Lebens des entführten Kindes.“ Ausdrücklich sollten keine Fragen zum Tathergang und zur Tatbeteiligung gestellt werden. „Daschner“, so Ennigkeit, „hatte bewusst ein klares Beweisverwertungsverbot geschaffen.“ Es geht hier also nicht darum, dass böse Polizisten im düsteren Polizeiverlies einen wehrlosen Verdächtigen einer Art „Waterboarding“ unterzogen hätten. Nichts wurde vertuscht, die Androhung von Gewalt als mögliches letztes Mittel wurde ordnungsgemäß aktenkundig gemacht, der Oberstaatsanwalt informiert.
Die Lektüre des Berichts von Ennigkeit erzeugt eine Sympathie für die Polizisten, die das Richtige wollten und dabei außerhalb der Legalität agierten. Der Bericht dramatisiert das alte Dilemma zwischen Recht und Gerechtigkeit. Es ist nicht rechtens, Folter anzudrohen. Der Laie wird trotzdem fragen, wie gerecht es sei, zwei gewissenhafte Polizisten, die ein Kind retten wollten, so zu behandeln, als hätten sie gefoltert. Oder einfacher gefragt: Wenn die Androhung von Schmerzen Folter ist, was ist dann die Ausführung? Der gesunde Menschenverstand wehrt sich gegen die Gleichsetzung. Das Dilemma hat dieses Buch nur beschrieben, nicht geknackt. Aber die Frage bleibt: Ist es gerechter, einen dringend der Tat Verdächtigten zu schützen, als ein Kindesleben zu retten?
– Ortwin Ennigkeit und Barbara Höhn: Um Leben und Tod. Wie weit darf man gehen, um das Leben eines Kindes zu retten?
Heyne Verlag, München 2011. 269 Seiten, 16,99 Euro.
Christine Brinck
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