Kultur: Diktatur des Gurus
Erschütternde Doku über Otto Mühls Kommune.
Wenn sie schweigt, dann spricht ihr Gesicht am deutlichsten. Statt vager Zugeständnisse und diffuser Ausflüchte verhärtet sich der blitzende Blick, als versuchte er, einen akuten Schmerz zu orten. Viel häufiger aber geht er ins Leere. Wenn diese Frau ein Chamäleon sein könnte, dann wäre sie jetzt unsichtbar.
„Meine keine Familie“ – im zweiten Wort des Filmtitels schimmert die kluge Absicht des Regisseurs, von Anfang an – dokumentiert einen Kampf. Einen, in dem ein Sohn niemals die Stimme gegen seine Mutter erhebt und die ihre sich fortwährend verflüchtigen will, dabei schützt allein sie vor der verräterischen Eindeutigkeit des Schweigens. Der Filmemacher Paul-Julien Robert konfrontiert seine Mutter mit dem, was man seine Kindheit nennen könnte, und mit ihrer Verantwortung dafür. Verantwortung? Versteht die Mutter den Sinn des Worts, wenigstens jetzt?
Paul-Julien Robert ist 1979 im Friedrichshof geboren, einem abgelegenen Gehöft am Neusiedler See. Hier hatte der österreichische Aktionskünstler Otto Mühl einige Jahre zuvor die Kommune der „Aktionsanalytischen Organisation“ (AAO) gegründet, hier probten ein paar hundert junge Leute ein Leben mit sogenannter freier Sexualität, unter der immer diktatorischer werdenden Anleitung ihres älteren Gurus, bis er 1991 wegen Sexualverkehrs mit Minderjährigen zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und die Kommune aufgelöst wurde.
Der sexuelle Missbrauch – Mühl selbst und seine Frau Claudia ließen sich die Mädchen und Jungen systematisch zuführen – spielt im Film insofern nur am Rande eine Rolle, als Robert bis zur Auflösung der Kommune noch nicht betroffen war. Wohl aber schildert er seine ersten diffusen Geborgenheitserfahrungen ebenso wie den Einsamkeitsschock, als die Mutter ab 1983 mit anderen zum Geldverdienen in die Schweiz geschickt wurde. In dieser Zeit wurden im Friedrichshof Erwachsene wie Kinder immer heftiger einem hierarchischen Binnenstruktursystem unterworfen. Und die „Selbstdarstellungen“, in denen jeder sich tanzend, musizierend, deklamierend, schreiend produzieren musste, entwickelten sich – vor den Augen des Kollektivs – zu einer von Mühl immer gewalttätiger gelenkten Tortur.
Archivaufnahmen, hier erstmals öffentlich zu sehen, belegen, mit welch primitiven Demütigungsstrategien Mühl regierte und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder deformierte. Die kurzen, drastischen Videoszenen, oft im Zeitraffer, oft auch in Realzeit in „Meine keine Familie“ hineinmontiert, machen den Film politisch, soziologisch und historisch relevant. Nirgendwo wurde wohl der Aufbruch der 68er, die Rebellion gegen die Nachkriegsenge und verständliche Lust auf alternative Lebenskonzepte stärker pervertiert als in Otto Mühls AAO.
Paul-Julien Robert hält sich auch sonst ans Konkrete. Er besucht seine möglichen Väter, die inzwischen teils eigene Kleinfamilien gegründet haben. Er interviewt erwachsen gewordene Mit-Kinder der Kommune, die bis heute mit massiven Schädigungen ihres Selbstbewusstseins und Sozialvertrauens kämpfen und die eigenen Kinder davon so wenig wie möglich spüren lassen wollen. Ihnen überlässt er die scharf formulierten Schlussfolgerungen, während er sich im Gespräch mit der Mutter, mit der er auch die Kommunenvideos ansieht, aufs zunächst fast staunende Fragen verlegt, auf die forschende, stets behutsam vorgetragene Erkundigung. Immer eröffnet er ihr die Möglichkeit zur Einsicht. Bis er – ein erstes Mal in diesen tastenden Gesprächen – selber schweigt.
So besticht der umfassend recherchierte und sorgsam montierte Film zuerst als erschütternde Individualrecherche und methodische Aneignung einer fremdgelenkten, ja schon fast gegen die Wand gefahrenen Biografie. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Pädophiliedebatten funktioniert er zudem als erhellender Beleg eines grässlich gescheiterten Befreiungsexperiments. Am nachhaltigsten aber ist Roberts bewusst unspektakulär inszenierte Erforschungsarbeit in ihrem Blick auf die Tragik vieler Nachgeborenen wirksam, die am Verdrängungspanzer ihrer Eltern rütteln. Was richtet Wahrheit in einem Leben aus, das ganz auf Lüge gründet? Jan Schulz-Ojala
Babylon Mitte, Brotfabrik, Eiszeit
Jan Schulz-Ojala
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