Kultur: „Dies ist die Revolution der Jugend“
Warum wir in Kiew auf die Straße gehen – und den Protest nicht beenden / Von Juri Andruchowytsch.
Während der knapp vier Jahre seiner Herrschaft hat das Regime von Herrn Janukowitsch das Land und die Gesellschaft in eine bis zum Äußersten gespannte Lage gebracht. Noch schlimmer – es hat sich selbst in eine Sackgasse manövriert und muss sich nun mit allen Mitteln an der Macht halten, um nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Dimensionen des gestohlenen und rechtswidrig angeeigneten Vermögens übersteigen jegliche Vorstellungen von menschlicher Habsucht.
Die einzige Antwort, die das Regime seit mehr als zwei Monaten auf die friedlichen Proteste gefunden hat, ist Gewalt, und zwar eine eskalierende, eine „kombinierte“ Gewalt: Angriffe der Polizeisondertruppen auf den Madina werden ergänzt durch individuelle Verfolgung oppositioneller Aktivisten und einfacher Teilnehmer der Protestaktionen (Beobachtung, Prügel, Anstecken von Autos und Wohnungen, Einbrüche, Verhaftungen, Gerichtsprozesse am laufenden Band). Das Schlüsselwort lautet Einschüchterung. Da sie nicht verfängt und die Menschen nur noch massenhafter protestieren, greift das Regime zu immer härteren Repressalien.
Eine entsprechende „Rechtsgrundlage“ schuf es am 16. Januar, als die vom Präsidenten völlig abhängigen Abgeordneten unter Verletzung parlamentarischer Prozeduren und sogar der Verfassung per Handheben (!) innerhalb von wenigen Minuten (!) über eine Reihe von Gesetzesänderungen abstimmten, die im Land faktisch eine Diktatur und den Ausnahmezustand eingeführt haben, ohne ihn noch explizit ausrufen zu müssen. Indem ich zum Beispiel diesen Text schreibe und verbreite, mache ich mich gemäß der entsprechenden Paragrafen mit „Verleumdung“, „Aufhetzung“ etc. strafbar.
Nun ja, wenn man diese Gesetze akzeptiert, muss man davon ausgehen, dass in der Ukraine alles verboten ist, was von den Machthabern nicht erlaubt wird. Und erlaubt ist nur eines – zu gehorchen. Die ukrainische Gesellschaft hat diese „Gesetze“ nicht akzeptiert, und am 19. Januar trat sie wieder zahlreich auf – um ihre Zukunft zu verteidigen.
In den Fernsehnachrichten aus Kiew können Sie heute Protestierende in allerlei Helmen und Masken sehen, manche haben Holzstöcke in der Hand. Glauben Sie nicht, dass das irgendwelche „Extremisten“, „Provokateure“ oder „Rechtsradikale“ sind. Auch meine Freunde und ich gehen jetzt in solcher oder ähnlicher Ausstattung zu den Kundgebungen. In diesem Sinne wären heute auch ich, meine Frau, meine Tochter und unsere Freunde „Extremisten“. Es bleibt uns nichts anderes übrig: Wir schützen das Leben und die Gesundheit von uns und unseren Angehörigen. Auf uns schießen Soldaten der Sicherheitskräfte, unsere Freunde werden von ihren Scharfschützen umgebracht. Die Zahl der getöteten Aktivisten allein im Regierungsviertel und nur an zwei Tagen beläuft sich nach unterschiedlichen Angaben auf fünf oder sieben Personen. Dutzende Menschen in Kiew sind verschollen.
Wir können die Proteste nicht stoppen, denn das würde bedeuten, dass wir uns mit einem Land einverstanden erklären, das ein lebenslanges Gefängnis sein wird. Die junge Generation von Ukrainern, die in der postsowjetischen Zeit aufgewachsen sind, akzeptiert grundsätzlich keine Diktatur. Wenn die Diktatur siegt, wird Europa mit einem Nordkorea an seiner Ostgrenze rechnen müssen und – nach unterschiedlichen Einschätzungen – mit fünf bis zehn Millionen Flüchtlingen. Ich will Ihnen keine Angst machen.
Dies ist die Revolution der Jugend. Der unerklärte Krieg der Macht wird vor allem gegen sie geführt. Abends, wenn es dunkel wird, bewegen sich unbekannte Gruppen von „Menschen in Zivilkleidung“ durch Kiew, die hauptsächlich junge Menschen angreifen, vor allem solche, die die Madina-Symbole, also die Symbole der EU tragen. Diese Menschen werden entführt, in den Wald gebracht, dort entkleidet und in der bitteren Kälte gefoltert. Seltsamerweise sind die Opfer am häufigsten junge Künstler – Schauspieler, Maler, Dichter. Man hat den Eindruck, als wären irgendwelche „Todesschwadrone“ ins Land eingefallen, deren Aufgabe es ist, das Beste, das es hat, zu vernichten.
Noch ein markantes Detail: Die Polizisten nutzen Kiewer Kliniken als Fallen für verletzte Protestierende, nehmen sie dort fest und verschleppen sie zum Verhör in unbekannte Richtung. Verletzte Demonstranten! Es ist extrem gefährlich geworden, auch für einfache Passanten, die zufällig mit einem Splitter einer Kunststoffgranate der Polizei verwundet worden sind, sich in ein Krankenhaus zu begeben. Ärzte sind ratlos und überlassen ihre Patienten den sogenannten „Rechtsschützern“.
Zusammenfassend: In der Ukraine sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit in vollem Gange, für die die heutige Macht verantwortlich ist. Wenn es in dieser Situation echte Extremisten gibt, so stehen sie an der Spitze des Staates.
Und nun zu Ihren beiden Fragen, die für mich üblicherweise am schwersten zu beantworten sind: Ich weiß nicht, was kommt, und ich weiß nicht, was Sie für uns tun können. Sie können jedoch meinen Appell nach allen Ihnen verfügbaren Möglichkeiten verbreiten. Und noch etwas: Fühlen Sie mit uns. Denken Sie an uns. Wir werden gewinnen, trotz aller Ausschreitungen. Das ukrainische Volk erkämpft sich die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft schon jetzt, ohne Übertreibung gesagt, mit dem eigenen Blut. Ich hoffe sehr, dass Sie das schätzen werden.
Juri Andruchowytsch ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine. Der gelernte Journalist, der aus Iwano-Frankiwsk im Westen des Landes stammt, machte sich zunächst durch die Gründung einer literarischen Performance-Gruppe einen Namen. Er schrieb Gedichte, Kurzgeschichten und mehrere Romane. Bereits während der Orangenen Revolution 2004 nahm er an Demonstrationen teil. Da er in den vergangenen Tagen von vielen Bekannten und auch Journalisten gebeten wurde, die derzeitige Situation in der Ukraine zu beschreiben, entschied er sich, diesen offenen Brief zu formulieren.
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