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Die glorreichen Sechs. Rajendra Roy, Trudie Styler, Sebastián Lelio, Juliette Binoche, Sandra Hüller und Justin Chang sind die Wettbewerbs-Jury.
©  Hannibal Hanschke/Reuters

Berlinale-Jury stellt sich vor: Die Zukunft des Films ist weiblich

Gelassenheit und Transzendenz: Die Wettbewerbs-Jury unter Juliette Binoche stellt sich bei einer ersten Pressekonferenz vor.

Man stellt sie sich als strenge und doch gütige Lehrerin vor. Juliette Binoche, die Jury-Präsidentin, sitzt in der Mitte des Podiums, sehr aufrecht, sehr wach, sehr mittelgescheitelt. Ruhig schweift ihr Blick über die versammelten Medienvertreter, ab und zu huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Zu gerne würde man jetzt wissen, ob sie sich nicht ein bisschen amüsiert, über die ein oder andere Frage, über die eigene Rolle und vor allem über das Ritual der ersten Pressekonferenz eines jeden Festivaljahrgangs.

Eine halbe Stunde später fest: Die Jury der 69. Berlinale ist verdammt smart. Nimmt ihren Job ernst und die Weltlage auch , hat etwas zu sagen – und geht ihre Aufgabe mit der gebotenen heiteren Gelassenheit an. Rajendra Roy, Filmchef des New Yorker MoMA trägt ein rotes T-Shirt unter dem Sweater, mit der Aufschrift „The Future of Film is Female“, gerade hat die Berlinale ihre jüngsten Diversity-Zahlen veröffentlicht: Bei 45 Prozente aller gezeigten Film (400) haben Frauen Regie geführt. Mit dem T-Shirt hat es dennoch eine andere Bewandtnis: Das MoMA unterstützt eine aus der 2016er-„Time’s Up“-Kampagne hervorgegangene Initiative der Filmkuratorin Caryn Coleman. Die Shirts kann man kaufen, mit dem Erlös werden Kurzfilmprojekte von Filmemacherinnen unterstützt. Das Museum begleitet die Aktion mit Frauen-Filmreihen, die zweite Runde startet am 14. Februar. Gute Sache, dass einmal nicht die Frauen die Sache der Frauen vertreten – und unsereins auch mal über die Kleider der Männer schreibt. Die Weinstein-Frage pariert Binoche übrigens mit einem kurzen „Peace to his mind“. Friede seiner Seele; und die Gerichte machen ihre Arbeit.

„Die Welt ist ziemlich egoistisch“, sagt Binoche. „Reiche Länder schließen ihre Grenzen, der Klimawandel macht ein Umdenken immer dringlicher, und viele Regierungen arbeiten nicht so ernsthaft, wie es geboten wäre.“ Stimmt schon, womöglich ist es wichtiger, über das Politische in der Politik zu sprechen als über politisches Kino. Das fasst sie weit größer, bringt den menschlichen Faktor ins Spiel und freut sich ansonsten auf die 17 Bären-Kandidaten antreten. „Jeder Film ist ein Sprung ins Unbekannte. Diesem Unbekannten gilt meine Liebe.“

Auch die Netflix-Frage wird gestellt

Klar, neben der Frauenfrage wird auch die Netflix-Frage gestellt. Die Streamingdienste können empfindliche Folgen für das unabhängige Kino haben, mein Binoche. Der chilenische Regisseur Sebastián Lelio („Gloria“, „Eine fantastische Frau“) plädiert für anti-apokalyptische Gelassenheit. Ja, der Film steht an einem Scheideweg, „aber das Kino ist schon so oft für tot erklärt worden, und es lebt immer noch“. Das kollektive Erlebnis im Saal werde er gleichwohl immer verteidigen.

Welcher Film hat sie zuletzt umgehauen? „Sie fragen nach unserem Geschmack?“, kontert Sandra Hüller, auch etwas streng. Bei der Berlinale 2018 war sie mit der Gabelstapler-Tragikomödie „In den Gängen“ zum Publikumsliebling geworden – von ihrer überragenden Rolle in „Toni Erdmann“ zu schweigen. Sie bricht eine Lanze für ein weiteres Werk aus Maren Ades Produktionsfirma Komplizen Film: Ihre letzte Erleuchtung im Kino sei Valeska Grisebachs „Western“ gewesen. Juliette Binoche schwärmt von Emmanuel Finkiels Historiendrama „La Douleur“, Roy war beim soeben zu Ende gegangenen Festival in Sundance vom Dokumentarfilm „American Factory“ angetan, Lelio nennt den Netflix-Film „Roma“, der US-Filmkritiker Justin Chang „Glücklich wie Lazzaro“, während die US-Produzentin Trudie Styler sich nicht festlegen möchte – gerade hat sie sich durch die Oscar-Kandidatenliste geschaut. „Es muss in jedem Falls eine transzendierende Erfahrung sein.“

Und Berlin, der vielgescholtene deutsche Film? Rajendra Roy streicht Balsam auf all jene Seelen, die sich international verkannt fühlen mögen. Die Berliner Schule – zu der Roy im MoMA eine Reihe organisierte, mit Filmen von Ade, Christian Petzold, Christoph Hochhäusler oder Angela Schanelec – sei „die einflussreichste Avantgardebewegung des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Es ist nicht möglich, über das zeitgenössische Kino zu sprechen, ohne über diese Filme zu reden“. Die Berlinale unter Dieter Kosslick hat viele von ihnen gezeigt. Dieses Jahr ist Schanelec im Wettbewerb dabei, zum ersten Mal. Christiane Peitz

Christiane Peitz

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