Claude Lévi Strauss: Die Zivilisation ist keine zarte Blüte
Zwischen magischem Denken und Strukturalismus: Dem großen Ethnologen Claude Lévi-Strauss zum 100. Geburtstag.
Vor einigen Jahren fragte mich in einer kleinen Oasensiedlung am Nordrand der Sahara der örtliche Koranlehrer nach meinem Beruf. „Ethnologe“, antwortete ich. Mein Gesprächspartner warf das lose Ende seines Umhangs über die Schulter, den Kopf in den Nacken und seine ganze Autorität als Mann des Wortes in die Waagschale, um sodann, keinen Widerspruch duldend, zu verkünden: „Ethnologie? Claude Lévi-Strauss!“
Am heutigen 28. November feiert der solcherart quasi zum Alleinvertreter einer ganzen Disziplin geadelte Claude Lévi-Strauss seinen 100. Geburtstag. Angesichts seiner in der Tat herausragenden Bedeutung für die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts überrascht es nicht, dass sich die Kommentatoren vor allem in Frankreich in Superlativen ergehen. Vom „letzten Giganten“ („Nouvel Observateur“) war jüngst zu lesen und vom „Denker des Jahrhunderts“ („Magazine Littéraire“). Dass dies keine leeren Floskeln sind, zeigt die Veröffentlichung einer gut 2100 Seiten starken Auswahl aus den Werken von Lévi-Strauss in der renommierten Bibliothèque de la Pléiade.
Spätestens mit dieser Publikation, die Lévi-Strauss in eine Reihe mit Autoren wie Proust, Shakespeare oder Goethe stellt, wird deutlich, welchen Rang man seinem Werk in Frankreich einräumt. Er selbst mag – soviel Spekulation sei erlaubt – vielleicht eine gewisse Befriedigung darüber empfinden, den literarischen Ritterschlag ausgerechnet von jenem Verlagshaus Gallimard empfangen zu haben, das rund sechzig Jahre zuvor die Veröffentlichung seiner Dissertation abgelehnt hatte.
Während jedoch das gebildete Frankreich den runden Geburtstag mit gehörigem Pomp begeht, bleibt in Deutschland zumindest die akademische Welt erstaunlich still. Weitgehend vergebens sucht man hierzulande nach wissenschaftlichen Kolloquien und Symposien, die die Aktualität seines Denkens auszuloten versuchten. Die Hochzeit des Strukturalismus ist lange vorbei – nicht nur diesseits des Rheins. Längst gilt es auch in seinem Mutterland nicht mehr als unverzichtbarer Ausweis der kulturellen Lesefähigkeit, mit den Schriften Lévi-Strauss’ vertraut zu sein, und niemand mehr würde heute von der Notwendigkeit einer „strukturalistischen Umorganisation“ der Fußballnationalmannschaft sprechen, wie es vor vierzig Jahren der Nationaltrainer Louis Dugauguez im Überschwang einer philosophischen Massensensibilisierung tat.
Einem breiten Publikum wurde Lévi Strauss vor allem durch ein großartiges Dokument des Scheiterns bekannt, das er Mitte der 50er Jahre innerhalb weniger Wochen verfasste. Es ist nicht nur von beängstigender Aktualität, sondern zählt ohne Zweifel zum Schönsten, was das ethnographische Genre hervorgebracht hat: „Traurige Tropen“, Reisebericht, Essay, Roman, Ethnografie, Zivilisationskritik, intellektuelle Autobiografie – das Buch entzieht sich jeder festen Zuordnung, und vermutlich liegt genau darin das Geheimnis seines Erfolgs. Geschildert wird die vergebliche Suche des Autors nach dem ursprünglichen, dem echten, dem unberührten Fremden.
Die Neugier auf dieses Fremde führt Lévi-Strauss in den 30er Jahren auf zwei längeren Expeditionen durch den brasilianischen Mato Grosso. Was er jedoch findet, sind Kulturen in Auflösung, Gruppen, die sich gerade aufgemacht haben, ihr Leben im Dschungel gegen das an den Rändern einer europäischen Handelsstation einzutauschen, und Häuptlinge in zerschlissenen Pyjamas. „Es ist nicht mehr zu ändern“, lautet Lévi- Strauss’ frustrierter Befund: „Die Zivilisation ist nicht mehr jene zarte Blüte, die man umhegte und mit großer Mühe an einigen geschützten Winkeln eines Erdreichs züchtete, in dem zwar viele robuste und durch ihre Lebenskraft zweifellos bedrohliche Feldpflanzen wuchsen, die aber die Saat noch zu verändern und zu kräftigen vermochten. Heute findet sich die Menschheit mit der Monokultur ab. Sie schickt sich an, die Zivilisation in Massen zu produzieren wie Zuckerrüben, und bald werden diese auch ihre einzige Nahrung sein.“
Gerade die Ethnologie, Lévi-Strauss’ angestammte Disziplin, mochte sich diese pessimistische Sicht freilich nicht zu eigen machen. Zu statisch schien der zugrunde gelegte Kulturbegriff, zu romantisch die dahinter hervorblitzende Sehnsucht nach Authentizität. Zwar ist die Tatsache der Globalisierung nicht zu leugnen, doch zeigte sich schon bald, dass sie keineswegs automatisch mit einer Homogenisierung einhergeht. Auch eine Reihe von Thesen und Forschungsergebnissen haben die Jahrzehnte nicht überdauert.
Die Verwandtschaftsethnologie etwa, die auf der Annahme beruht, dass verwandtschaftliche Beziehungen wie sprachliche Zeichen organisiert sind und sich mit Phonemen und Morphemen vergleichen lassen, hat sich von den konzertierten Attacken ihrer Kritiker bis heute nicht erholt. Die großen Leitfragen aber haben bis heute nichts an Aktualität verloren: Was verbindet die Menschen verschiedener Kontinente und Zeiten? Welche Gemeinsamkeiten weist das Denken so genannter „Primitiver“ mit dem unseren auf? Welche unwandelbaren Gesetze liegen unserem Denken und Tun zugrunde? Welche Rolle kommt dem handelnden Subjekt dabei zu? Was, in letzter Konsequenz, ist der Mensch?
Es zählt zu den großen Verdiensten von Lévi-Strauss, gezeigt zu haben, dass das wissenschaftliche Denken eine Möglichkeit ist, die natürliche Umwelt intellektuell zu erfassen und den menschlichen Umgang mit ihr zu regulieren. Alternative Klassifikationssysteme (insbesondere solche, die gerne mit dem abwertenden Terminus „magisch“ belegt werden) mögen in mancher Hinsicht weniger effektiv sein, letztlich aber, so glaubte er, befriedigen sie das Bedürfnis nach einer gewissen Ordnung der Dinge ebenso gut, wie es die moderne Wissenschaft tut.
„Jede Klassifizierung“, stellt er einmal kategorisch fest, „ist besser als keine Klassifizierung.“ So mag es uns zwar heute nicht mehr unbedingt einleuchten, weshalb man im römischen Altertum versuchte, Zahnschmerzen dadurch zu heilen, dass man einen Frosch beim Kopf packte, ihm ins Maul spie und mit der Bitte, den Schmerz mit sich fortzunehmen, wieder laufen ließ. Tatsächlich aber wird von den Anhängern solcher Heilmethoden ein kausaler Zusammenhang von Ursache und Wirkung keineswegs bestritten, sondern, ganz im Gegenteil, eher überstrapaziert.
Der Grundgedanke ist der gleiche wie bei jeder anderen Art der Klassifizierung: Dinge hängen mit anderen Dingen zusammen. Statt wie seine Vorgänger von „magischem Denken“ zu sprechen, zog Lévi-Strauss daher die Bezeichnung „Wissenschaft vom Konkreten“ vor. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang insbesondere das Begriffspaar vom Bastler (bricoleur) und dem Ingenieur. Wo der Bastler aus dem Repertoire eines geschlossenen Systems sinnlich wahrnehmbarer Objekte schöpft (Zähne, Frösche, Speichel) und diese auf oft unerwartete Weise miteinander kombiniert, entwirft der Ingenieur neue Objekte nach den Vorgaben des jeweils anstehenden Projekts.
Die sinnlich wahrnehmbare Welt des Ingenieurs ist also prinzipiell offen für Erweiterungen. Kein geringer Unterschied, letztlich aber nur ein gradueller. Die Ergebnisse der Bastelei müssen denen der Ingenieurskunst keineswegs nachstehen – weder in funktionaler noch in ästhetischer Hinsicht. Der Rolle des Menschen als handelndes Subjekt mag Claude Lévi-Strauss dabei allerdings – anders als sein großer Gegenspieler Sartre – keine besondere Bedeutung zumessen. „Ich bin fest davon überzeugt“, erklärte er noch im Frühsommer dieses Jahres in einem Gespräch mit Constantin von Barloewen, „dass das Leben keinen Sinn hat, dass nichts irgendeinen Sinn hat.“ Wenn es überhaupt eine letzte, absolute Wahrheit gebe, so der Jubilar, dann liege diese nicht bei irgendeinem Gott oder beim Menschen, sondern „in der Abwesenheit des Sinns, im Nicht-Sinn.“ Oder, um es mit dem Begriff zu bezeichnen, den Claude Lévi-Strauss und der ihn groß gemacht hat: auf der Ebene der Struktur.
Thomas Reinhardt lehrt Historische Ethnologie in Frankfurt/Main und arbeitet am Kölner Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“. Im Hamburger Junius Verlag veröffentlichte er gerade den Band „Claude Lévi-Strauss zur Einführung“ (187 Seiten, 13,90 €).
Thomas Reinhardt
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