Miranda July: Die Zauberkünstlerin
Ein Elfenwesen, ein Puck, eine Pinocchia – Marionette ihrer eigenen Fantasie. Am Dienstag hat ihr Film "The Future" im WETTBEWERB Premiere. Eine Begegnung mit Miranda July
In dem fantastisch vielfarbigen künstlerischen Universum, das Miranda July schwerelos erschaffen hat in nicht einmal vielen Jahren, schwingen das Imaginierte und das Erlebte, das Verspielte und das Erlittene fortwährend hin und her. Wobei nicht nur ihre Erfahrungen in den Kurzgeschichten, Filmen und Videoperformances vielfach gespiegelt scheinen; auch wer Miranda Julys Zauberwelt als Gast betritt, fühlt seine eigene Erlebniswelt in aller Sanftmut ins Hyperreale verdichtet, und eine Verschränkung für länger beginnt. Langsame, genießerische Leser geraten ebenso in eine Trance wie die, die sich ihren Bildwelten öffnen. Nur wer sich überlässt, gewinnt – indem er sich erst einmal abhanden kommt.
Wenn es also Miranda July gar nicht geben würde, trotz der Schauspielerin dieses Namens, die durch ihre flirrenden Filme geistert, trotz des schönen Namens, der Buchcover schmückt: Es wäre, bei so viel Verwandlung durch Aneignung nicht einmal überraschend. Dass es sie dann aber doch gibt, ist eine zarte Sensation. Ein Elfenwesen hat sich da in die bombastisch geschmacksfeindliche Lobby eines Berliner Hotels verflogen, ein Puck, eine Pinocchia, eine menschgewordene Marionette ihrer eigenen Fantasie. Die schmale Figur steckt in einer schwarz gepunkteten beigefarbenen Seidenbluse, in schwarzem Mini und schwarzen Strumpfhosen, und auch die schwarzen Stiefel wirken wie flink übergeschnallt für leichte Reisen in der Luft. Die großen Augen fixieren den Fremden, und Vorsicht! Wer eine Sekunde zu lange hineinsieht, ertrinkt in einem Feensee!
Zum Glück spricht das Wesen amerikanisch. Ein bisschen zumindest erdet das diesen Berlinale-Montagmorgen. Am besten auch, man bringt „No one belongs here more than you“ mit, ihr zu Recht umjubeltes Geschichtenbuch von 2007, das auf Deutsch unter dem eckigen Titel „Zehn Wahrheiten“ erschienen ist. Und man legt das Presseheft zu ihrem Film „The Future“ dazu, womit sie sich, nach ihrem zu Recht vielumjubelten Erstling „Ich und du und alle, die wir kennen“ von 2005 nun um den Goldenen Bären bewirbt. Alles Beweisstücke dafür, dass das hier echt ist, dass das jetzt allerwirklichst passiert.
Heute hat Miranda July Geburtstag. Ein Primzahlengeburtstag. Er folgt auf ein zumindest zahlensozial äußerst gewöhnliches Alter, das durch zwei, drei, vier, sechs, neun, zwölf und achtzehn teilbar ist. Nein, die Zahl „müssen wir jetzt nicht nennen“, sagt Miranda July mit schönem, hellem, ja, auch lautem Lachen, aber was, wenn sie sich geschätzte fünf Sekunden später so an eine Frage an ihren Mann erinnert: „Hast du je von jemandem gehört, der 37 ist?“ Könnte ein Miranda-July-Titel sein: „Have you ever heard of anyone who is thirty-seven?“ So satzlang wie ihr interaktives Internetprojekt learningtoloveyoumore.com oder auch der so traurig-lustige Kurzfilm mit John C. Reilly, den man auf YouTube gucken kann: „Are You the Favorite Person of Anybody?“
An diesem Geburtstag zeigt die Berlinale ihren Film mit dem zur Abwechslung kurzen Titel „The Future“ – aber wer schenkt hier wem eigentlich was? Das Festival der Drehbuchautorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin die Aufführung, oder Miranda July dieser Berlinale eine Zukunft namens „The Future“? Wie schon in ihrem Erstling geht es um ein Paar, nur diesmal um eines, das sich schon gefunden hat. Es gerät in Abenteuer, wie sie außer Miranda July auf diesem Planeten wohl allenfalls Michel Gondry erfinden könnte. Eine sprechende Katze spielt eine Rolle, ein wanderndes T-Shirt und die Kunst, sich aus einem Fenster lehnend zu verlieben. Und darum, was man sieht, bevor man sich hingibt, in aller Stille.
Aber reden wir nicht von „The Future“, der heute Premieren-Gegenwart feiert, reden wir von der Vergangenheit. Von Geburtstagen zum Beispiel, als Miranda July Kind war. Geburtstagen im amerikanischen Nordoststaat Vermont, Geburtstagen im nordkalifornischen Berkeley, wohin ihre Eltern zogen, als sie fünf war, Geburtstagen vor ihrer Zeit im Nordweststaat Oregon, wohin sie abhaute mit achtzehn, raus aus der Schule und rein in eine Art Punkleben. Reden wir von der Vater-Marotte, die Kerzen mit der Wasserpistole zu löschen, „Jungsscherze aus den Fünfzigern“. Oder wie sie, da muss sie zwölf geworden sein, 20 Mitschüler zur Geburtstagsparty auf die Schlittschuhbahn einlud. „Es kamen zwei.“ Pause, das Lachen des Interviewers abwartend. „Ich war so optimistisch! Meine Erwartungen waren so weit weg von der Realität.“
Was zum Teufel taugte schon damals die Realität! Immerhin, eine beste Freundin war unter den zwei Gästen, jene Freundin, die ihr in einer Mädchenkurzgeschichte den Namen „July“ gegeben hat – und das ist „die wahre Geschichte“, bekräftigt die als Miranda Jennifer Grossinger geborene Miranda tiefernsten Blicks, schließlich kursieren über ihren Künstlernamen mindestens sechs andere Versionen. Es ist wohl auch die Freundin, die man in der Kurzgeschichte „Etwas, das nichts braucht“ kennenlernen kann und in der es heißt: „In einer gerechten Welt wären wir Waisen gewesen. Wir fühlten uns wie Waisen, und wir hatten das Gefühl, das Mitleid zu verdienen, das man Waisen entgegenbringt, aber wir hatten Eltern, so peinlich es auch war. Ich sogar zwei.“
Kindheit ist unlustig in Miranda Julys Kunst. Ob der Siebenjährige in „Ich und du und alle, die wir kennen“, der von allen guten Elterngeistern verlassen im Chatroom unterwegs ist. Ob ihr „Lost Child“-Kinderzeichnungsbuch, das sie unlängst in eine TV-Kamera hielt. Oder einer jener Sockel ihrer Biennale-Skulptur von 2009, auf dem geschrieben steht: „Das ist mein kleines Mädchen. Sie ist klug und witzig. Sie wird keins von den Problemen haben, die ich habe. Ihr Herz wird nie gebrochen werden, sie wird nie gedemütigt werden.“ Stellt euch auf diesen Sockel, alle kleinen Mirandas dieser Welt, und lasst euch fotografieren!
Kindheit, bis zur ausgehenden mit 16 oder 17, war auch unlustig in ihrem Leben. Etwas erzählt Miranda July an diesem Morgen, das auch eine Geschichte sein könnte. Bei den Proben zu ihrem ersten Highschool-Theaterstück flüchtete sie raus und unter ein geparktes Auto und lief nachher stundenlang durch die kühle nordkalifornische Nacht, bis in den Garten hinter dem Haus einer Freundin. Drinnen klingelte das Telefon. „Ich wusste, es waren meine Eltern, die hatten schon die Polizei geholt. Danach sprach ich zwei Tage lang kein Wort. Sehr unreif, klar, dieses Verstummen.“
Wer hat sie damals gerettet aus der Panik, dass ihr Stück aufgeführt werden sollte? Nicht die Eltern, nicht die Freundin, niemand. „Das Stück rettete mich“, sagt Miranda July; nicht nur, weil es dann doch zur Premiere kam, sondern weil das, was man erschafft, ein inneres Echo auslöst, die stärkendste Einsamkeitserfahrung der Welt. Inzwischen zieht sie sich zum Schreiben – ein Roman ist in Arbeit, das „nächste große Ding“ – in ein kleines Haus in Los Angeles zurück. Internet aus, Kopfhörer auf, Stille.
Übrigens: Auch Jason und Sophie in „The Future“ gehen vom Netz – guter Tip für Leute, die der „ablenkenden Leere“, wie Miranda es nennt, entfliehen wollen, Risiken und Lebensnebenwirkungen inklusive. Vorher aber noch schnell mirandajuly.com: Zwei Klicks, und man ist verzaubert für länger.