Kultur: Die Wunden des Biografischen
Fridolin Schley kritisiert die Literaturkritik des Schriftstellers W. G. Sebald.
So viel Ansehen der Erzähler W. G. Sebald genießt, so verrufen ist er als polemischer Literaturkritiker, besser bekannt als moralisierender „Literaturpfaffe“ (Lothar Baier). 2010 beschrieb ihn der Germanist Manfred Durzak gar als „manisches Phänomen“. Missliebige Autoren für verrückt zu erklären, zeugt von einem Affektniveau, vor dem sich der jüngste Verächter, Fridolin Schley, Jahrgang 1976, in seiner Arbeit „Kataloge der Wahrheit“ gefeit glaubt. Wiederholt versichert Schley, die Positionierungen des Literaturkritikers nicht zu bewerten, sondern nur ihre unbewussten Feldstrategien freizulegen. Es soll eine nüchterne Dissertation mit Bourdieu werden, „die Studie intendiert keinen Denkmalssturz“. Nur macht sie sich sogleich daran.
Schnell gerät die der akademischen Legitimation geschuldete Beteuerung in ein schiefes Verhältnis zum Sündenregister, demzufolge Sebald methodisch entgleist, wüst attackiert, sich in Schmerzensposen eines Heiligen wirft, profitiert, bedient, einstreicht, abgreift usw. Die „kritische Analyse“ infiziert sich merklich am Gegenstand, ganz wie die Kollegenschelten aus Norwich will sie nur Fehlleistungen und Eigennutz sehen. Teilweise aber gründet die Abneigung auf einleuchtenden Argumenten.
Zu einfach macht es sich Sebald etwa in seiner Dissertation. Die steile These zu Alfred Döblin, die Gewaltdarstellungen der Romane hätten dem heraufziehenden Nationalsozialismus unwillentlich zugearbeitet, erweist sich als spekulativ. Und dem Weimarer Publizisten politische Orientierungslosigkeit, gar Opportunismus, nachzusagen, heißt, eine Konstante zu übersehen: das Sympathisieren mit der prorepublikanischen, unorthodoxen Linken. Woher der früh sich abzeichnende Hang, sofort Wankelmut und Scheinopposition zu unterstellen, überhaupt charakterliche Defizite? Schley erkennt darin den Versuch, die eigene Autorschaftsfigur zu profilieren, das implizite Gegenmodell des wahrhaft kritischen Häretikers, der mit dem Entzaubern kanonisierter Größen auch ihre germanistischen Lobredner herausfordert.
Die Unkosten indirekter Selbstaufwertung steigen, als Sebald die narrative Anlage seines Welterfolgs, „Die Ausgewanderten“ (1992), zur Norm erhebt: Ein mit Zügen des Autors versehener Erzähler, freiwilliger Exilant, dient Überlebenden der Shoah als Vermittler ihrer Erinnerungen, arbeitet dokumentarisches Material ein, wenn auch mit Fiktionalitätssignalen durchsetzt – so und nur so darf vom Zivilisationsbruch geschrieben werden.
Offensichtlich spricht der Schriftsteller mit, wenn der Literaturwissenschaftler fast zeitgleich Jurek Becker bekrittelt, dessen Erzähler in „Jakob der Lügner“ (1969) die emotionale Präsenz vermissen lasse, das Elend im Ghetto von Lodz überdies nicht drastisch genug rapportiere. Abwegige Vorwürfe, wendet Schley zu Recht ein, denn weder lag Becker daran, klaffende biografische Wunden vorzuzeigen, noch ging es seinem Roman primär um möglichst authentisches Erinnern. Im Gegenteil, Plot und Titel wollten doch auf die Kraft der Halbwahrheit hinaus.
Wie sich Sebalds erzählendes und nicht erzählendes Werk wechselseitig helfen, meißelt Schley schön heraus. Doch leider durchzieht seine Arbeit ein Kurzschluss: Verfolgt ein Autor Eigeninteressen, müssen seine Urteile über Kollegen falsch sein. Diese fixe, der Theorie des literarischen Feldes fremde Idee führt an der Pointe vorbei. Konkurrenzzentrierte Kritik kann durchaus Erkenntnis abwerfen. Vorausgesetzt, sie misst die Konkurrenten nur an deren eigenem Programm, etwa die Gruppe 47 am Anspruch auf historischen Klartext. 1983 registriert allein der böse Blick aus England, wie trostreich Grass’ „Tagebuch einer Schnecke“ (1972) von der Danziger Judenvertreibung handelt. Ihre getreue Dokumentation wird garniert mit der fiktiven Geschichte des Nichtjuden Hermann Ott, eines unbeugsamen Helfers der Minderheit, vorbildlich sozialdemokratisch gesinnt sowieso. An der „retrospektiven Wunschfigur des Autors“ entziffert Sebald eine unter deutschen Nachkriegsliteraten verbreitete Tendenz. Von Nationalsozialismus und Judenhass konnten sie selten erzählen, ohne die Leser mit Fabeln vom „stillen Heldenleben“ widerständiger Deutscher zu erbauen und der Kundschaft so eine Auseinandersetzung mit dem Banaleren, der Deformation durch Selbstangleichung, zu ersparen. Auf 50 Prozent Aufklärung kamen 50 Prozent Süßstoff, den der Quertreiber als Erster beim Namen nennt, ohne zu ahnen, welche biografische Hypothek Grass abzutragen hat.
Dass Informationen aus der Vita für das Erhellen trüber Autor-Leser-Beziehungen entbehrlich waren, bringt Schley in Erklärungsnot; es passt nicht ins Feindbild vom „Biografisten“ Sebald. Darauf lässt er sich nun mal nicht reduzieren. Und wenn er dubiose Verhältnisse zwischen Leben und Werk ansprach, dann aus guten Gründen. Was weiten Teilen der Germanistik als Abgrund an Biografismus gilt, der Angriff auf Andersch (1993), wirkt wie ein Muster an Schlüssigkeit, verglichen mit den vernebelnden Gegenreden, die Schley aufwärmt.
In den „Kirschen der Freiheit“ präsentierte sich Andersch als Innerer Emigrant und kleiner Widerständler, weil Deserteur. Ausgespart blieb eine Erzählung mit reichlich Blut-und-Boden-Vokabular (1942), die Akkreditierung in der Reichsschrifttumskammer als Nebenerwerbsschriftsteller, vor allem die dafür nötige Scheidung von der halbjüdischen Ehefrau (1943). Sebalds Textbefund – Selbststilisierung mit gezielten Auslassungen, die wenig Widerständiges zum Verschwinden bringen – trifft zu, während Schleys Formulierung von üblichen „Verschiebungen und Verdichtungen“ so treuherzig wie unscharf ausfällt. Unverzeihlich selbstgerecht, ignoriere Sebald ein erklärtermaßen wunschbiografisches Erzählen. Zu dem Rettungsring griff die Andersch-Gemeinde schon Mitte der neunziger Jahre, dumm nur, dass er löchrig bleibt. „Erzählung spielt eine Möglichkeit durch“, Anderschs bekannte Sentenz zum Denken im Konjunktiv, legitimiert den Roman, dem sie entstammt, „Winterspelt“, das dezidierte Planspiel von 1974. Sie ist schwerlich rückprojizierbar auf „Kirschen der Freiheit“.
„Aufgabe der deutschen Literatur: revolutionärer Realismus“ – die vollmundigen Töne stachelten Sebald allererst an. Also erlaubte er es sich, anders als die Gemeinde, die 1990 ans Licht gekommenen Fakten der Vita mit der Autobiografie abzugleichen. Und deren Extremselektionen als Parodie aufs Programm zu betrachten. Eine Ungeheuerlichkeit. Germanistik ohne Schnarchgeräusche.
Warum verpasst Schley die Chance, Qualitätsunterschieden in der Polemik wie im attackierten Œuvre nachzuspüren? Warum wird stattdessen die eine en bloc heruntergeschrieben, das andere hoch? Des Schreckensmanns Einseitigkeit nur umzukehren, hat mit einem blinden Fleck zu tun. Seine eigene Position im literaturwissenschaftlichen Feld zu erfassen, fällt Schley schwer.
Je verlässlicher er den Anti-Biografismus nachbetet, desto überzeugter hält er sich für einen Ketzer, der „zum ersten Mal“ Sebalds „bislang fast unbehelligt“ gebliebene Literaturkritik hinterfragt. Der Ministrant als Häretiker – das ist erheiternd, zumal nach den vielen Abwertungen des „Literaturpfaffen“ in den letzten 20 Jahren. Welten trennen den Gratismut von der Risikofreude eines Sebald. Mit den biografisch rückgebundenen Lektüren wählte dieser bewusst die in der Zunft verpönteste Außenseiterposition.
Wittert Schley darin nichts als Selbstinszenierung, beschreibt er in schönster Projektion sein eigenes Werk, eine Simulation von Häresie. Auf dass auch etwas Glanz auf ihn, den Nachwuchserzähler fallen möge. Das ist eine pfiffige Akquise symbolischen Kapitals. Nichts Verwerfliches, nur eine unbewusste Strategie.
Fridolin Schley:
Kataloge der
Wahrheit. Zur
strategischen Inszenierung von Autorschaft bei W. G. Sebald.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2012.
525 S., 54,90 €.
Markus Joch
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