Architektur: Die Welterklärer
Vieldeutigkeit, zur Eindeutigkeit gefroren: Das Haus am Waldsee widmet dem gefeierten Architektenbüro Graft eine Einzelausstellung.
Die Währung des Architekten, sollte man meinen, sind Gebäude. Mindestens ebenso wichtig sind aber Bilder und Worte. Le Corbusier und Rem Kohlhaas verdanken ihren Ruhm zum großen Teil Schriften und Vorträgen. Auch das Berliner Büro Graft, dem das Haus am Waldsee nun eine Einzelausstellung widmet, hat eine erstaunliche Sichtbarkeit erreicht, wenn man bedenkt, wie viele ihrer Projekte nicht verwirklicht sind.
Die Zahl derer, die in Berlin ein Graft-Gebäude tatsächlich von innen gesehen haben, beschränkt sich wohl auf den Patientenkreis einer Charlottenburger Zahnarztpraxis und die Gäste des Hotel Q in der Knesebeckstraße. Aber jeder kennt die „Wolke“, die Graft für die temporäre Kunsthalle am Schlossplatz vorgeschlagen hatten. Und jeder würde ihre Häuser wieder erkennen: die geschwungenen Formen einer biophilen Science-Fiction-Architektur, die die Gesetze der Schwerkraft und der Zeit überwinden.
Paradiesische Gegenwirklichkeiten
Die Hauptelemente der Ausstellung sind denn auch nicht Fotos, sondern Modelle und große 3-D-Renderings, die in künstlichem Farbklima spektakuläre bis paradiesische Gegenwirklichkeiten versprechen. In Nordchina zum Beispiel: Zackig konkurriert die Schanze eines Ski-Resorts mit den Gipfeln des Changbai-Shan-Gebirges nahe der nordkoreanischen Grenze. Oder Dubai: Wie die Motorhaube eines Sportwagens steigt ein Sonnenkollektorendach an, aus dem sich in vielen Winkeln gebrochene Wohnblöcke auffalten. Oder Kuala Lumpur: Zwei weiße Luxuspavillons schweben auf Stelzen in einer Seenlandschaft, ihre Hüllen wirken wie visualisierte Klangwellen und zuglich wie aus Schilf geflochten. Die Suggestion: Graft könnten die ganze Welt schöner und energieeffizienter gestalten, wenn man sie nur ließe. Aber keins der Projekte ist bisher gebaut.
Wolfram Putz, Christoph Körner, Lars Krückeberg und Thomas Willemeit haben ihr Büro 1998 nach dem Studium in Los Angeles gegründet. Heute schlägt ihnen Begeisterung entgegen und Skepsis, denn sie füllen eine Lücke. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass Architekten um die 40 in deutschen Diskussionen kaum vorkommen und dass Berlin, wo Graft 2009 einen Wettbewerb zum Tempelhofer Feld gewonnen haben, seine Potenziale als städtebauliches Experimentierfeld mit einer rückwärtsgewandten Baupolitik verspielt hat. „Schinkel würde sich im Grab umdrehen“: Graft sagen, was viele denken, aber sie sagen es so, dass es neu klingt.
Ein "Solarkiosk" zum Handy-Aufladen
Der Nimbus des Neuen ist Grafts Markenkern. Das computergestützte Entwerfen, der interdisziplinäre Ansatz, das globale Arbeiten mit Büros in Berlin, Los Angeles und Peking, dazu das Engagement für Afrika mit einem „Solarkiosk“ zum Aufladen von Telefonen: Das alles sind Dinge, die selbstverständlich sein sollten. Dass sich auf ihnen ein Image aufbauen lässt, sagt mehr über den deutschen Architekturdiskurs als über Graft.
Ein Weinstock illustriert zu Beginn der Ausstellung die Technik des „Grafting“ im Obst- und Weinanbau: die Optimierung von Pflanzen durch Kombination mit fremden Arten. Graft nehmen sie als Vorbild für Entwürfe, die sich nicht an Stilen orientieren, sondern aus Bau- und Nutzungsvorgaben generieren – auch eine Grundtugend, die allerdings mit dem softwaregestützten „parametrischen Entwerfen“ neue Möglichkeiten erhalten hat. Ein Mehrfamilienhaus für Tokio verkörpert das eindrucksvoll: Aus den Bauvorschriften ergab sich eine Hügelform, das begrünte Dach ist als Feuchtigkeitsspeicher ans Wassersystem angeschlossen, und ein zum Himmel geöffneter Trichter bringt Luft und Tageslicht ins Gebäudeinnere.
Deutsche Vizemeister im A-Capella-Jazzgesang
Ein Grafting unternimmt auch Katja Blomberg, die Direktorin des Hauses am Waldsee, indem sie die Räume für Gegenwartskunst einem einzelnen Büro überlässt. Das Haus betätigt sich als symbolischer Kapitalgeber für Akteure eines anderen Marktes. „Wir profitieren ja auch davon, schließlich sind Graft bekannt“, sagt Blomberg, die Wert auf die Feststellung legt, dass alle Kosten von ihrem Haus getragen wurden. Nur das ,Künstlerbuch’ haben Graft mit aufgestockt.
Nun könnte das Haus weit mehr profitieren, enthielte das Buch eine kunst- oder architekturtheoretische Fragestellung. Man könnte aus dem floral-vaginalen „Desert Canyon Resort“ Henry Moore herauslesen oder die Technik des „Slicings“ mit den Skulpturen Tony Craggs in Beziehung setzen, von denen passenderweise eine im Garten steht. Stattdessen erwähnt Blomberg, dass die Architekten deutsche Vizemeister im A-Capella-Jazzgesang waren. Und schon dürfen die Wunderkinder selbst drauflos „graften“: von der Villa Adriana über englische Gartenarchitektur zu Pasta und Mash-Ups in der Popmusik. Von Kant bis Pink Floyd wird alles schlampig heranzitiert. Überholte Dichotomien werden errichtet, um sie mit Effekt überwinden zu dürfen. Ja, Graft wollen uns tatsächlich die ganze Welt erklären. Sie sagen nur Dinge, denen man nicht widersprechen kann. Das ist die Strategie von Lebensratgebern.
Weniger Kunst als Shopdesign
Im Erdgeschoss ist, wie die Architekten sagen, „das Denken“ ausgestellt: ein Kuriositätenkabinett aus Kitschobjekten, Dornenkrone, Currywurst und so weiter. Das wiederum ist eine Strategie von Fürsten.
Eine Spiegelinstallation, die das von Brad Pitt gesponserte Engagement für den Wiederaufbau von New Orleans in eine plakative „Phoenix-aus-dem-Ei“-Motivik übersetzt, erinnert dann weniger an Kunst als an ein Shopdesign. Es passt, dass Graft bisher vor allem Geschäfte und Hotels realisieren konnten, Räume mit vorgegebenen Nutzungen. Denn ihre Gebäude illustrieren zwar Ideen von Wandel, lassen dabei aber wenig Raum, den Wandel auch zu gestalten. Der Titel der Ausstellung trifft es: „Distinct Ambiguity“ – Vieldeutigkeit, zur Eindeutigkeit gefroren.
Argentinische Allee 30, bis 12.2., Di-So 11–18 Uhr.
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