Kultur: Die Welt von Ekely
Nach dem Schrei: Edvard Munchs gelöstes Spätwerk in der Kunsthalle Emden
Er nannte sie liebevoll „seine Kinder“. Aber er konnte auch streng zu ihnen sein. Im Winter ließ er sie manchmal wochen- lang im Freien stehen, weil er fand, dass sie „das aushalten“ müssten: den Wind, die Kälte, die Feuchtigkeit. Es gibt ein Foto, das Edvard Munch beim Malen in einem seiner „Freiluftateliers“ zeigt. In dem hölzernen Verschlag ohne Dach lehnen halbfertige Gemälde an den Wänden. In der Mitte steht Munch im langen dunklen Mantel, Pinsel und Palette in der Hand – und um ihn herum liegt kniehoch der Schnee.
Der Name des norwegischen Malers war Ende August durch den Diebstahl zweier seiner berühmtesten Bilder aus dem Munch-Museum in Oslo in die Schlagzeilen geraten: „Der Schrei“ und „Madonna“. Diese Bilder jedoch hätten in Emden ohnehin nicht gezeigt werden sollen. Die Kunsthalle hat es sich zur Aufgabe gemacht, den letzten drei Jahrzehnten im Schaffen des Exzentrikers nachzugehen, jener Zeit also, in der der Maler nach einem Vierteljahrhundert der Rastlosigkeit, die ihn nach Paris und Berlin, nach Thüringen, Lübeck und Warnemünde geführt hatte, endlich sesshaft geworden war.
1909 kehrte Munch nach Norwegen zurück. Sieben Jahre später erwarb er das Gut Ekely am Oslofjord, eine ehemalige staatliche Amtsgärtnerei an der Stadtgrenze von Oslo, fünf Hektar groß, mit Obstplantage, Wäldern und Wiesen. Das großzügige Anwesen wurde bald sein Refugium und zu einem gewissen Grad auch sein frei gewähltes Gefängnis, das er in den 28 Jahren, die ihm noch blieben, immer seltener verlassen sollte.
Die Unrast, die Munch Zeit seines Lebens getrieben hatte, äußerte sich jetzt nur noch in einer fast manischen Bilderproduktion. Als der Künstler im Januar 1944 mit 81 Jahren starb, fanden sich in seinem Nachlass über 1100 Gemälde, 18000 Graphiken und 3000 Aquarelle und Zeichnungen. 64 davon, allesamt Leihgaben aus dem Munch-Museum in Oslo, werden in Emden nun präsentiert in einer angenehm überschaubaren und trotzdem sehr reichhaltigen Schau, zu der sich noch eine Reihe historische Fotografien vom Gutshof gesellen.
Mit dem Umzug nach Ekely änderten sich für Munch auch die Motive. Seine berühmtesten Bilder, das „kranke Kind“, „Der Schrei“ oder „Madonna“ waren damals längst gemalt. Er selber hatte es zu finanzieller Unabhängigkeit gebracht; nun wandte er sich dem zu, was Haus und Hof zu bieten hatten. Der Rundgang durch die Ausstellung beginnt mit Gemälden vom Garten: die Apfelbäume, das Grün drumherum, der blaue Himmel, Bauern, die einen Acker bestellten – das alles führt Munch trotz der gewohnten, immer leicht schwankenden Perspektive auf eine Weise vor, die man für seine Verhältnisse nachgerade als heiter und fröhlich bezeichnen könnte.
Vom Garten aus geht es in den Wald. Da wird die Grundstimmung dann schon etwas düsterer. Kleine Figürchen stolpern zwischen mächtigen Baumstämmen umher, verlorene Gestalten, die sich irgendwie verirrt zu haben scheinen. Hier begegnet man auch einem Bild, in dem Munch ein altes Thema aus seinem „Lebensfries“ aufgegriffen hat, der ihn auch auf Ekely immer weiter beschäftigte: die symbolische Dreifaltigkeit der Frau als keusche Unschuld, Verderbnis bringende Verführerin und sinister Trauernde, die den Mann – Munch in dem Fall – zuverlässig in abgrundtiefe Verzweiflung stürzt.
Überhaupt tauchen bei den Werken der späten Jahre immer wieder Reminiszenzen aus der Vergangenheit auf, wie Trugbilder aus einem Albtraum, der nicht vergehen will. Gesichter mit weit aufgerissenen Augen, schreckensbleich; Hände, die den Kopf halten; Männer und Frauen, die sich von allem Irdischen abzuwenden scheinen. Es sind Darstellungen, in denen man die Verletzlichkeit des Menschen erkennt, als läge seine Seele als offene Wunde vor einem auf dem Studiertisch.
Ein dritter Teil der Ausstellung zeigt Ansichten der Häuser auf Ekely, der Villa und des roten Gesindehauses. Hier ist besonders auffällig, wie Munch sich von einer filmischen Lesart leiten lässt. Wenn er die Villa – sein Haus – malt, dann vermeint man die Umgebung wie bei einem Kameraschwenk zu sehen. Manchmal ragt noch sein Schatten mit hinein in den Bildausschnitt, ein unsichtbarer Anwesender, dessen bevorzugte Tätigkeit das Beobachten ist. Auch das Gesindehaus kommt auf mehreren Bildern vor, stets aus unterschiedlichen Blickwinkeln und unterschiedlicher Entfernung.
Das klingt unheimlicher als es ist. Dazu trägt ein Merkmal bei, das sich in nahezu allen späten Bildern Munchs wiederfindet: die zunehmende Befreiung der malerischen Form. Auf beinahe jeder Leinwand gibt es nun Stellen, die ganz abstrakt und losgelöst von der Wiedererkennbarkeit bloß noch aus Farbflecken und Pinselstrichen bestehen. Sie signalisieren, dass noch Hoffnung besteht, sich die Dinge zum Guten fügen können. Ist schließlich alles doch nur Malerei.
Edvard Munch, Bilder aus Norwegen, Kunsthalle Emden, bis 16. Januar 2005, Katalog 24,50 Euro
Ulrich Clewing
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