Kultur: Die Welt hinter dem Tunnel
Berlinale-Sieger von 2002: Hayao Miyazakis Animationsfilm „Chihiros Reise ins Zauberland“
Ein trauriger Ort, trostlos und verlassen. Ein Vergnügungspark aus den neunziger Jahren, stillgelegt wegen der Wirtschaftskrise. Doch des Nachts wird dieser Ort bevölkert von irrealen Kreaturen. Wird heimgesucht von überirdischen Wesen, die hier werkeln und schuften. Wer in diese Welt eindringt, muss sich wundern. Und hüten. Es ist die Welt hinter dem Tunnel.
Durch ihn schreitet das kleine Mädchen Chihiro, wie Alice, ins Wunderland. Sie folgt ihren Eltern, die ja ach so gierig und neugierig sind (der Vater fährt nicht nur einen dicken Audi, sondern schiebt auch einen dicken Bauch vor sich her). Eigentlich geht Chihiro nur unwillig hinterher – genau so unwillig wie sie zuvor den Umzug aus Tokio mitgemacht hat. Die Familie ist in ein Städtchen auf dem Land gezogen, weit weg von Chihiros Freunden. Doch der Vater hat sich verfahren und dabei diesen Tunnel entdeckt, hinter dem er jetzt ein üppiges Gastmahl wittert. Ein Fehler. Denn bald darauf wacht er als Schwein wieder auf. Auch in Japan sind die fetten Jahre erstmal vorbei.
Ein merkwürdig toter Vergnügungspark, in dem jetzt das Prinzip Arbeit herrscht; unersättliche Eltern, die für ihre Unersättlichkeit bitter bestraft werden – durch Hayao Miyazakis Zeichentrickgeschichte hallt anfangs das Echo der japanischen Gegenwart; es ist eine Gegenwart des bedrohten Wohlstands, der lähmenden Depression mit steigender Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung des nimmersatten Mittelstands. Doch je weiter sich der Film in das Labyrinth seiner Geschichte hineinwagt, desto weniger Ausblick gibt er auf die reale Welt von Heute. Die Handlung verzweigt sich im Phantasmagorischen, rennt dabei frohgemut in narrative Sackgassen und sehnt sich zusehends nach den Weiten der japanischen Mythologie – was uns immer staunend, manchmal aber auch ratlos zurücklässt.
In diesem mythologisch inspirierten Reich führt die Hexe Yububa (synchronisiert von Nina Hagen) ein strenges Regiment. Wer nicht arbeitet, wird in ein Tier verwandelt. Gleichzeitig darf keiner keinem die Arbeit klauen. Übelriechende Flussgötter stapfen herum. Durch die Luft flattern Krähen mit Gesichtern von verschrumpelten Weibern. Trampelige Riesenbabies; Knautschratten, die stricken; hüpfende Grünköpfe; triefende, schleimende und kotzende Albtraumviecher... das alles und noch viel mehr. Nur Menschen sind hier ganz und gar unerwünschte Asylbewerber. Chihiro dringt dennoch ein in dies fremde Universum: Sie kämpft um die Rückverwandlung ihrer schweingewordenen Eltern. Menschenskinder, immer diese Menschenkinder!
Wer gezeichnete Geschichten konsumiert – seien es Comic- und Manga-Hefte oder filmische Cartoons und Animes –, bekommt dafür in Deutschland viel weniger „kulturelles Kapital“ zurückbezahlt als in Amerika oder Japan. Doch selbst der größte Hochkultur-Snob muss einräumen, dass Miyazakis Filme ein Füllhorn an fantastischen Einfällen ausschüttet und seine Zeichnungen handwerklich umwerfend sind. In einer Szene imitiert Miyazaki, offenbar augenzwinkernd, die Unzulänglichkeiten der Filmkamera: Gegenstände im Vordergrund erscheinen reichlich verschwommen, der Mittelgrund dagegen ist scharf. Andererseits muss auch der größte Miyazaki-Fan zugeben, dass die Illusionswucht, die Action und die drängende Problematik des Vorgängerfilms nicht erreicht werden: „Prinzessin Mononoke“ bleibt der beeindruckendste Animationsfilm der letzten Jahre.
„Chihiros Reise ins Zauberland“ dagegen ist ein verspielter, spielerischer Film. Ein Kinderspielzeug ist er nicht. In diesem Erwachsenenmärchen geht es um den Verlust von Heimat und Identität, um die Selbstbehauptung in der Ferne und das Verstehen des Fremden. Wer Miyazakis Film, der 2002 den Goldenen Bären gewann, als Gutenachtgeschichte abtut, macht den gleichen Fehler wie einst die Kritiker, die „Huckleberry Finn“ oder „Alice im Wunderland“ ins Jugendbuchregal einsortierten.
In 15 Kinos; Cinestar
SonyCenter (OmU)
Julian Hanich
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