„Der Ursprung der Welt“: Die wahre Größe der Klitoris
Liv Strömquist diskutiert in „Der Ursprung der Welt“ die Tabuisierung der Vulva, gibt feministischer Theorie ein neues Gewand und demonstriert das Potential des Comics für grafische Essays.
Vor mehr als vierzig Jahren unterstreicht die französische Autorin Benoîte Groult zu Beginn von „Ödipus' Schwester“ mit Verve ihre feministische Motivation und die Notwendigkeit der essayistisch-anekdotischen Erzählweise für ihre neues Buchvorhaben. Wohl wissend, dass dieses Werk partout nicht dem lieblich-lauen Frauenroman-Mainstream entspricht, prognostiziert sie: „Mit diesem undefinierbaren Produkt hier werde ich endgültig zur Kategorie der Nervensägen gehören, zu denen man nicht einmal mehr höflich sein muß.“
Als Beleg zitiert sie die Reaktionen ihrer Bekannten auf das Projekt: „,Wenn du das machst, dann sprich bitte wenigstens nicht von Uterus oder Clitoris', sagt mir ein Freund, den ich sehr mag und der sich einbildet, die Frauen sehr zu mögen. ,Männer verabscheuen so etwas, das weißt du.'“ Der Ton ihrer abschließenden Zusammenfassung lässt zurecht vermuten, dass sie fest entschlossen ist, sämtliche Warnungen zu missachten: „Das heißt, wir sollen Geschichten von Damen erzählen, die keine aufmüpfigen Gedanken haben und die keine spezifischen Organe besitzen.“ Konsequent „aufmüpfig“ seziert sie in Folge den Sexismus der Frauenzeitschriften, mokiert sich über männliche Überlegenheitsriten oder klärt über die horrende Praxis der Klitorisverstümmelung auf.
Angegriffen fühlen kann man sich auch unbelesen
Schauen wir uns die Reaktionen auf die Besprechungen eines unlängst erschienenen feministischen Comics an, konstatieren wir mit Schrecken die Aktualität der Groult'schen Prophezeiungen. „Höflich“ sind die Kommentare nicht, die sich unter den verlinkten Rezensionen von Liv Strömquists „Der Ursprung der Welt“ auf Facebook und Co. nachlesen lassen. Hier tummeln sich fröhlich die Schlagworte der „Genderwahn“-Besessenen. Den Comic rezipiert haben von den Kritikern die wenigsten – angegriffen fühlen kann man sich offensichtlich auch unbelesen.
Die Provokation der schwedischen Autorin ähnelt der von vor vierzig Jahren: Wie Groult hat sich Strömquist nämlich in „Der Ursprung der Welt“ essayistisch der verbotenen Frucht genähert (im Original heißt der Comic übrigens auch „Kunskapens frukt“, dt. „Die Frucht der Erkenntnis“). Sie erklärt zum Beispiel die Unterschiede zwischen Vulva und Vagina und widmet sich mit angemessener Aufmerksamkeit der Klitoris.
„Der Ursprung der Welt“ ist also in der Themenwahl, in der innovativen Herangehensweise und dem feministischen Appellcharakter definitiv eine Schwester im Geiste von „Ödipus' Schwester“. Strömquist moniert wie Groult zuvor (siehe z.B. Groults Interview mit der Emma anlässlich ihres bevorstehenden 90. Geburtstags) die Tabuisierung, Banalisierung, oder Dämonisierung der weiblichen Geschlechtsorgane seitens kirchlicher, (pseudo-)wissenschaftlicher oder kulturbetrieblicher Vertreter – vom Apostel Paulus über Freud bis zu Jean-Paul Sartre.
Groult betont im Buch wie auch im Interview, dass sich Ignoranz oder gezielte Herabsetzung der weiblichen Geschlechtsorgane in einem Mangel an aktiv verwendeten Bezeichnungen manifestieren; Strömquist illustriert (im doppelten Sinne) die gebräuchlichen Umschreibungen, die das weibliche Geschlecht als Mangel oder lediglich als notwendigen Teil eines Binären definieren und dabei die Vulva außer Acht lassen: Die Scheide wird als simple Schatulle für den Penis, oder schlimmer als Nicht-Penis, als Loch, als Nichts begriffen.
Weit verbreiteter Menstruationshass
Die Comicautorin belässt es indes nicht bei der linguistischen Diskursanalyse. Der deutsche Verleger spricht treffend von einer „Kulturgeschichte der Vulva“. In einem Rundumschlag zeigt Strömquist, dass der Vulva in längst vergangenen Zeiten eine durchaus prominente Stellung zukam und legt dar, wie die Scham rund um die Scham von Kirchenvätern, aber auch (in dieser Hinsicht anti-aufklärerischen) Pionieren der Aufklärung konstruiert wurde. Auch die Beschreibung „Kulturgeschichte der Vulva“ gibt den Inhalt nur verkürzt wieder: Diese Kulturgeschichte dient nämlich als Grundlage eines assoziativen Brainstormings, das uns mit Strömquist über den Umgang mit den Konsequenzen semiotischer Zuschreibungen nachdenken lässt.
Alles schon mal dagewesen? Sind wir nicht längst darüber hinweg? Fühlt sich diese Art „frecher Feminismus“ nicht fast ein bisschen staubig an? Haben wir nicht mittlerweile ein entspanntes Verhältnis zu Regelblutung und weiblichem Orgasmus? Die Antwort ist: Leider nein. Strömquists Analysen helfen auch die Tabus unserer Tage zu erklären: Wie verbreitet der „antike Menstruationshass“ noch immer ist, zeigen z.B. die Reaktionen auf Kiran Gandhis Marathonlauf vor zwei Jahren und die Unsicherheit junger Mädchen, denen die Bravo mit ihren „Drei coolsten Tamponverstecken“ allerdings gerne weiterhilft.
Der Comic ruft nicht nur dazu auf, die zementierten Normen zu hinterfragen, sondern liefert auch jede Menge Informationen samt Hinweisen auf weiterführende Lektüren, die den Leser_innen von heute nicht unbedingt vertraut sein dürften. Erst 1998 entdeckte die australische Wissenschaftlerin Helen O'Conell die wahre Größe der Klitoris, deren rund zehn Zentimeter fast vollständig im weiblichen Körper versteckt sind – deren entscheidende Funktion für den weiblichen Orgasmus allerdings nicht versteckt werden sollte.
Wo die Bundeskanzlerin sich unruhig windet
En passant wird so mit dem freudlosen Freudschem Mythos der Unterscheidung zwischen überlegenem vaginalem und unterlegenem klitoralem Orgasmus aufgeräumt. Trotz der Informationsdichte kommt der Comic alles andere als belehrend oder dröge daher, dafür sorgen schon die charmant ungelenken Zeichnungen. Strömquist ist witzig und versteht sich darin, polemische und plakative Übertreibungen zu Unterhaltungszwecken einzusetzen.
Last but not least: Die Diskussion der Rolle des Mediums und des charakteristischen Strömquist-Stils nimmt hier deshalb einen so geringen Platz ein, weil diese Aspekte bei der Lektüre fast in Vergessenheit geraten. Der Essay im Comic funktioniert: Die Faktenvielfalt wird mit Hilfe der Panels bewältigt, die Wissen in verdaulichen Häppchen präsentieren. Dank der pseudo-naiven Bilder im DIY-Stil und dem äußerst dynamischen Schriftbild kommen Komik und Tempo ins Spiel.
Strömquist aktualisiert im Medium Comic in kurzweiliger Form die wichtigen Botschaften ihrer literarischen Vorgängerinnen – und das hoffentlich nicht nur für eine weibliche Leserschaft. Wie wir gesehen haben, bleibt aber auch Groult aktuell. Ihrem feministischen Werdegang widmete die hierzulande nicht unbekannte Autorin Catel mit „Ainsi soit Benoîte Groult“ übrigens auch einen Comic, den es sich zu lesen lohnt.
In Zeiten, in denen die Bundeskanzlerin sich konfrontiert mit der Feminismus-Frage unruhig windet, kann es gar nicht genug neue Lektüren geben, die die noch heute pertinenten Fragen in zugänglicher Form stellen. Bleibt also zu hoffen, dass Catels Comic und Strömquists vorherige Werke auch bald in Deutschland unterhaltsam informieren oder auch informativ unterhalten.
Liv Strömquist: Der Ursprung der Welt, Avant, 140 Seiten, 19,95 Euro
Marie Schröer
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