Kulturkampf: Die verkaufte Seele der Lagune
Venedig hält dem Ansturm der monströsen Kreuzfahrtschiffe kaum mehr stand. Der Chef der Hafenbehörde sagt: „Es gibt Venezianer, denen die Kreuzschiffe nicht gefallen. Aber es gibt zwei Millionen Besucher, die sie genießen.“ Wer argumentiert, dass sich der Massentourismus zumindest rechnet, wird durch eine neue Analyse korrigiert. Und in der Stadt werden die Proteste immer lauter.
Ein zwanzigstöckiger Wolkenkratzer schiebt sich durch die Lagune. 333 Meter lang. 60 Meter hoch. 38 Meter breit: Die MSC Divina hat die Kreuzfahrtsaison in Venedig eröffnet. Allein in diesem Jahr durchqueren mindestens 900 Schiffe die Lagune, Kreuzfahrtschiffe und Passagierfähren, in Spitzenzeiten ankern 12 Kreuzfahrtschiffe gleichzeitig im Hafen.
Die Touristen der MSC Divina stehen hoch oben aufgereiht hinter ihren Plexiglasgeländern und winken auf Venedig herab, ein Miniaturstädtchen mit Palästchen, Kirchlein und bunten Häuschen. Von den Demonstranten, die im eisigen Wind am Ufer der Insel Saccafisola ausharren, sehen die Kreuzfahrer vermutlich nur kleine schwarze Pünktchen und wundern sich, dass die Pünktchen nicht zurückwinken, sondern „Riesenschiffe-raus-aus-der-Lagune“-Transparente schwenken.
Die MSC Divina fährt im Geleitschutz von Polizei und der Antiterroreinheit Digos, was etwas surreal anmutet – angesichts eines Protests, der im Wesentlichen aus Mädchen mit blutroten Lippen und Trillerpfeifen besteht, aus Jungs mit Dreadlocks, Männern in Professorencordhosen und Damen in Daunenjacken – die alle pfeifen, trommeln, buhen und „Wir sind hier!“ in ein Megaphon rufen. Aus einem Lautsprecher schallt Musik der venezianischen Reggae-Gruppe Pitura freska, und ein Mädchen ruft „Ihr habt Eure Seele verkauft!“, als ein Ausflugsschiff mit der Aufschrift „Kreuzfahrtschiffe willkommen!“ die MSC Divina überholt.
In den letzten Jahren haben sich die Kreuzfahrtschiffe zu einem beliebten Fotomotiv in Venedig entwickelt – und jeder, der Zeuge davon wird, wie die Marmorsäulen des Markusplatzes vor den vorbeiziehenden schwimmenden Wolkenkratzern zu Stecknadeln schrumpfen, ahnt, dass hier etwas nicht stimmt, auch wenn er nichts weiß über die Folgen des Drucks von tausenden Tonnen Wasser auf die fragilen Ufer Venedigs, über die Verseuchung der Lagune durch hochgiftige Benzopyrene von den Schiffsrümpfen, den Elektrosmog durch die Radaranlagen, die Feinstaubbelastung (500 Tonnen Ausstoß allein im Jahr 2010) und dem Zusammenhang mit der amtlich anerkannten „signifikanten Zunahme an Lungentumoren“: Venedig ist die Stadt mit der höchsten Lungenkrebsrate Italiens.
Ganz Wagemutige versuchen sich schaudernd auszumalen, was passieren würde, wenn ein zerstreuter Kapitän mehr Augen für seine Tischdame als für die Route hätte und die ihm anvertrauten 114 500 Bruttoregistertonnen (Costa Favolosa, um nur ein Beispiel zu nennen) gegen den Dogenpalast fahren würde. Was gar nicht so unwahrscheinlich ist. Die deutsche Mona Lisa, kümmerliche 200 Meter lang, verfuhr sich im Mai 2004 im Nebel und lief wenige Meter vor der Riva degli Schiavoni auf Grund. Ungeachtet dessen gilt der ministerielle Erlass, der nach der Costa-Concordia-Katastrophe 2012 erging und Küstenpassagen von weniger als zwei Seemeilen verbietet, überall – nur nicht in Venedig.
Nach der Havarie der Mona Lisa beschied Paolo Costa, der damalige Bürgermeister von Venedig, dass dies der Tropfen sei, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, und forderte ein Verbot der Schiffspassagen zwischen Markusplatz und der Insel San Giorgio Maggiore. Heute ist Costa Chef der Hafenbehörde und sagt: „Es gibt Venezianer, denen die Kreuzschiffe nicht gefallen. Aber es gibt zwei Millionen Besucher, die sie genießen.“
So blüht die Kreuzfahrtindustrie in Venedig wie Algen in heißen Sommern, die Passagierzahlen sind in nur 13 Jahren um 440 Prozent gestiegen, allein in den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl der anlegenden Schiffe verdoppelt. Von den 30 Millionen Touristen, die Venedig jährlich besuchen, sind zwei Millionen Kreuzfahrer, die vor allem im Sommer kommen. Am 24. Juli 2011 war die Stadt kurz vor dem Kollaps, weil sich 35 000 Kreuzfahrer neben den üblichen 80 000 Tagestouristen durch die Gassen drängelten – doppelt so viele Touristen wie Einwohner.
Venedig ist neben Barcelona der größte Hafen des Mittelmeers – mit einer Besonderheit: Es ist ein Hafen inmitten einer Lagune, die für Riesenschiffe naturgemäß nicht tief genug ist. Um den Hafen für die Petrochemieanlage von Marghera nutzen zu können, wurden einzelne Kanäle tiefer gegraben: Die Fahrrinne für Großtanker, der Malamocco-Kanal, wurde in den 1960er Jahren ausgehoben. Ursprünglich 15 Meter tief, hat ihn die Erosion bis auf 20 Meter ausgespült, an einer Stelle sogar auf 59 Meter. Dadurch gelangt bei Flut immer mehr und immer schneller Meerwasser in die Lagune – die einst 40 Zentimeter flach war und heute 2,5 Meter tief ist. Das Hochwasser in Venedig ist von Menschen gemacht.
Würden die Kanäle Venedigs wieder aufgefüllt und der Hafen aus Venedig ausgelagert, wäre das Problem des Hochwassers gelöst. Aber die Hochwasserschleuse „Mose“, die weniger Venedig als den Hafen (und die Interessen der Bauunternehmer als Betreiber) schützen soll, ist bereits im Bau. Kosten: 5,5 Milliarden Euro, Erhalt jährlich: 30 Millionen Euro.
Allerdings wurde bei der Planung von „Mose“ die explosionsartige Zunahme der Kreuzfahrtschiffe nicht vorausgesehen, auch nicht, dass die Schleusentore den Hafenbetrieb verlangsamen würden. Also beschloss die Hafenbehörde, für Containerschiffe und Großtanker eine Anlegestelle im offenen Meer zu bauen, acht Seemeilen vor Venedig. Wenn dort bis zu 10 Millionen Container jährlich verladen werden können, warum sollte das nicht auch mit zwei Millionen Kreuzfahrern möglich sein, fragen sich viele Venezianer. Nicht nur die schwarzen, Transparente schwenkenden Punkte auf Sacca Fisola, die zur Bürgerinitiative „No Grandi Navi“ gehören, sondern auch die Kulturschutzorganisation „Italia Nostra“ – die alle, laut Hafenbehörde, gewissenlos 2000 Arbeitsplätze und 286 Millionen Euro gefährdeten, die in Venedig pro Jahr mit den Kreuzfahrtschiffen verdient würden.
Der venezianische Wirtschaftsprofessor Giuseppe Tattara hat das Kosten-Nutzen-Verhältnis zwischen Venedig und den Kreuzfahrtschiffen analysiert. Er kommt zu dem Schluss, dass die Kosten der Kreuzfahrtindustrie (geteilt unter drei marktbeherrschenden Gruppen: Carnival, Royals Caribbean International und Norwegian Cruise Lines/Star Lines) den Verdienst bei weitem übersteigen. Einem Verdienst von 286 Millionen Euro stehen Kosten von 313 Millionen Euro entgegen (200 Millionen Euro für die Luftverschmutzung, 100 Millionen für Klimaschäden, 13 Millionen Euro für die Verschmutzung der Meere. Wer sich jetzt wundert: Dank internationaler Studien lässt sich so ziemlich alles berechnen).
Die Differenz tragen die Venezianer und die Bewohner des venezianischen Hinterlandes, die für den Erhalt der Kreuzfahrtindustrie pro Kopf 6000 Euro jährlich bezahlen. Dabei wurden die Gesundheitsschäden der Venezianer, die Schäden am ökologischen Gleichgewicht der Lagune, an den Uferbefestigungen und den Fundamenten der Paläste (Venedigs Kanäle sind ein System kommunizierender Röhren, weshalb der von den Schiffen ausgelöste Wasserdruck auch in den kleinen Kanälen Schäden anrichtet) noch gar nicht eingerechnet.
Immerhin hat der Protest gegen die Riesenschiffe zwei prominente Unterstützer gefunden. Adriano Celentano hat gegen die Kreuzfahrtschiffe gesungen – weil es eines der Großprojekte ist, die in Italien in schönster Eintracht von Regierung und Opposition vorangetrieben werden. Und der Kulturkritiker Salvatore Settis, den viele Italiener am liebsten als Staatspräsidenten sähen, wurde bei seinem letzten Vortrag in Venedig bejubelt, als er sagte: „Der jahrhundertealte Einklang von Stadt und Land, der Italien zu Europas Garten werden ließ, ist eines gewaltsamen Todes gestorben. Seine Mörder waren keine barbarischen Invasoren, sondern selbstvergessene und die Gesetze missachtende Italiener.“
Die MSC Divina ist inzwischen in der Ferne verschwunden. Die Demonstranten haben die Megaphone und den Lautsprecher wieder in kleine Einkaufskarren gepackt und warten auf das nächste Vaporetto. Als ein älterer Herr einsteigt, fällt eine kleine Tischglocke aus der Tasche seines steifen Trenchcoats.
Petra Reski lebt als Publizistin und Journalistin in Venedig. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Von Kamen nach Corleone. Die Mafia in Deutschland“.
Petra Reski
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