Ultimative Disziplin: Die vergeigte Erziehung
Die chinesisch-amerikanische Autorin Amy Chua preist den unerbittlichen Drill. Das unartige Kind wird bei Minusgraden vor die Tür gesetzt. Ob fasziniert, schockiert, hingerissen oder angewidert, die US-Öffentlichkeit diskutiert die "Schlachthymne der Tigermutter".
„Mit drei Jahren las Sophia Sartre in englischer Übersetzung, löste einfache Aufgaben in der Mengenlehre und konnte 100 chinesische Schriftzeichen.“ Amy Chua, 48, chinesisch-amerikanische Mutter, hat ein Buch über die Erziehung ihrer beiden Töchter geschrieben, ein Buch, das zu zwei Dritteln derlei Wunderdinge verkündet, während das letzte Drittel knapp der Tragödie entkommt.
Der Werdegang der Wunderkinder Sophia und Louisa („Lulu“), ihre Existenz als akademisch und musikalisch perfektionierte Sprösslinge, lässt den Westen staunen. Was haben die Chinesen, das wir nicht haben? Sie brillieren in Konzerten, mit ihren Industrien brechen sie Rekorde. Woher nur der Bienenfleiß, die Disziplin, die Unermüdlichkeit? Westliche Furcht vor China und dessen Aufstieg zur Supermacht lässt das Fragezeichen hinter diesem Erfolg so überdimensional anschwellen, dass eine wie Amy Chua leichtes Spiel hat.
Die Harvard-Absolventin und Juraprofessorin an der Universität Yale liefert dem in ihren Augen verweichlichten Westen als Antwort das Protokoll ihrer chinesischen Pädagogik. Ob fasziniert, schockiert, hingerissen oder angewidert, die US-Öffentlichkeit diskutiert die „Schlachthymne der Tigermutter“ (Battle Hymn of the Tiger Mother). Das Buch rangiert seit Anfang Januar auf der Bestsellerliste der „New York Times“. Auf Deutsch ist das Werk gerade unter dem farbloseren Titel „Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“ herausgekommen (Nagel und Kimche, 254 S., 19, 90 €). Bei Licht betrachtet allerdings geht es darin eher um die Mutter aller Schlachten, am Ende gar um eine Niederlage.
Die Quintessenz der Chua-Ideologie lautet in etwa so: Eltern opfern sich auf, damit die Kinder sich später für sie aufopfern. Da Eltern an die Kraft ihrer Kinder glauben, wird diesen ultimative Disziplin abverlangt. Spielen, Herumträumen, Trödeln, Kindergeburtstage besuchen, Jazzmusik, Improvisieren auf Klavier oder Geige: All das ist verbotene Zeitvergeudung. Ganz ohne asiatische Zurückhaltung, Diskretion und Dezenz, vielmehr mit angeberischem, auch sarkastischem Unterton und waschecht amerikanischer Übertreibung, schildert Chua in dieser Home-Story ihre Machtkämpfe mit den Kindern.
Der pendelnde Professorvater, jüdischer Amerikaner und permissiver als die Mutter, ist in den prägenden Jahren selten daheim. Die Mutter: „Wie soll ich meine Beziehung zu Lulu beschreiben? ,Totale atomare Kriegsführung’ trifft es nicht ganz.“ Als Lulu, dreieinhalbjährig, am Klavier nicht pariert, greift die Mutter, „entschlossen, ein gehorsames, asiatisches Kind zu erziehen“, zur Kältefolter. Bei sechs Grad unter Null stellt sie die Kleine („den kreischenden Dämon“) nach draußen auf die Veranda. Erst als das Kind in der Kälte erstarrt, als es „unheimlich still“ wird, und Mutter argwöhnt, es „würde lieber erfrieren als nachgeben“, beginnt sie, das Jugendamt zu fürchten und holt es zurück ins Haus. Gewonnen hat es freilich nicht: „Lulu hatte mich unterschätzt. Ich rüstete neu auf.“ Mit „Hinterlist“ und „Taktik“ müsse man erziehen, bereit sein, „sich von seinen Kindern hassen zu lassen“, pausenlos als „Exerzierfeldwebel“ neben ihnen zu stehen, ein „Zwangssystem chinesischen Stils“ für die kindlichen Untertanen errichten. Donnerwetter.
Da weist eine Mutter Qualitäten auf, um die ein autoritärer Herrscher wie Hosni Mubarak sie beneiden könnte. Dennoch scheitert auch diese private Diktatur, ein bitteres Faktum, von eifernden Nachahmern und Ursula-Sarrazin-Fans gern übersehen. Denn auch als Familiendiktator hat man es schwer, klagt Tiger-Mom: „Man tritt gegen ein ganzes Wertesystem an, das in der Idee der Aufklärung, der Freiheit des Individuums, in den Theorien der Entwicklungspsychologie und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verwurzelt ist.“
Die Erstgeborene, Sophia, die „vom Augenblick ihrer Geburt an“ ein „rationales Temperament“ zeigt, übt im Alter von neun Edvard Griegs „Schmetterling“ auf dem Klavier. Das Stück, erläutert die Mutter, „soll leicht und sorglos klingen“ und bis das gelingt, brauche es „Stunden um Stunden mörderischen, stumpfsinnigen Drills“. In der chinesischen Erziehung komme „der Zustand des Glücklichseins nicht vor.“ Wünscht sich Lulu, die von Geburt an „heikel“ gewesen sei, ein Haustier heißt es: „Dein Haustier ist die Geige.“ Niedermachen, Bestrafen, Beschämen, davon ist Chua überzeugt, seien bewährte Taktiken, Kinder zum Erfolg zu zwingen. Lächerlich wirken auf sie die liberalen Eltern, die jeden bunten Kritzelstrich ihres Kindes loben.
Beim Üben – bis zu sechs Stunden täglich – werden unter Druck auch schwierigste Takte gemeistert, als Drohungen wie diese fallen: „Wenn das nächste Mal nicht perfekt ist, nehme ich dir sämtliche Stofftiere weg und verbrenne sie.“ Ein bisschen extrem könne das wohl gewesen sein, räsoniert Chua, andererseits war es „äußerst wirkungsvoll.“ Jawohl: Sophia tritt mit 15 Jahren als Pianistin in der Carnegie Hall auf, Lulus Violinspiel entzückt die besten Lehrer.
Bedenkenlos protokolliert Chua, der Begriffe wie Narzissmus und Symbiose fremd zu sein scheinen, hauptsächlich ihre Emotionen, ihre Reaktionen, ihre Ambitionen: „Sophias Erfolg erfüllte mich mit Energie“. Häufig, gleich ob es ums Üben, Vorspielen oder Karriereplanen geht, spricht sie im Wir-Modus: „Wir übten stundenlang“. Coco, der Hund der Familie, soll zunächst auch dressiert werden, erweist sich aber als „unintelligente Rasse“ und mutiert zum Kuscheltier. Angeschafft wurde er als Bestechung für die Kinder – als Lohn für fleißiges Üben.
Amy Chua, 1962 geboren, ist ein Kind der zweiten Generation chinesischer Einwanderer in Amerika. Zu Hause wurde Chinesisch gesprochen, für jedes Wort auf Englisch schlugen die Eltern mit Essstäbchen auf die Finger. Erstklassige Schulleistungen und striktes Befolgen von Anweisungen galten als selbstverständlich. Damit es in der dritten Generation, trotz Akademikerhaushalt und Wohlstand, nicht zur „Degeneration“ kommt, plante die Tigermutter am Nachwuchs eine „Kampagne wider den Niedergang“ zu führen. Sie will sichergehen, „dass Sophia und Lulu nicht verhätschelt und dekadent werden, wie die Römer in der Spätphase ihres Imperiums“. Daher lässt sie die Töchter auch körperlich schwer arbeiten, Wäschekörbe schleppen, das Haus putzen. Panische Angst herrscht vor Einladungen der Kinder zu anderen Familien, Dutzende Ausreden hat diese Tigerin dafür parat.
Über Jahre geht die Dressur glatt. „Es klappte“, wie Chua mehrfach, atemlos und eilend, beteuert. Bis zu dem Tag, an dem Lulu die Demütigungen einer Geigentrainerin satt hat, sich wehrt – „ich hasse die Geige!“ – fortläuft. Symbolisch ist die Geige, die für Chua Symbol der Hierarchie, der Hochkultur und des Respekts vor den Eltern darstellt, zerbrochen. In einem Restaurant wirft Lulu ein Glas zu Scherben und schreit ihren Hass auf die Familie heraus. Chua verliert die Fassung: „Ich hatte es mir zum Beruf gemacht, die Art von westlichen Eltern zu verachten, die ihre Kinder nicht im Griff haben. Jetzt hatte ich selbst das respektloseste, unflätigste, gewalttätigste, unkontrollierbarste Kind von allen.“ Ihr dämmert, dass sie ihren Untertan vollends verliert, wenn sie nicht Konzessionen macht, sie ringt sich durch zum größten Angebot: „Wir geben die Geige auf.“ Erfreut, befreit stürzt sich Lulu aufs Tennisspielen. Monate habe es sie gekostet, diese letzten paar Seiten aufzuschreiben, gesteht die gescheiterte Tigerin am Schluss. Die Untertanen sind auf die Barrikaden gegangen, die Diktatur bröckelt, der Eigensinn, einmal geweckt, lässt sich nicht mehr eindämmen.
Nein, nein, keinesfalls habe sie einen Erziehungsratgeber verfassen wollen, betont Chua inzwischen gegenüber Kritikern, lediglich die Memoiren einer Mutter, passagenweise freiwillige, dann wieder unfreiwillige Selbstparodie, eine Art Familientherapie für sich und die Töchter, die das Manuskript gegenlesen und sogar darüber diskutieren durften. Entstanden ist ein Anti-Ratgeber, und zugleich ein psychologisch hoch interessanter, streckenweise grotesk anmutender Fallbericht zur narzisstischen Störung einer Mutter. Hier liegt ein seltenes Dokument vor, auf seine Weise ein wertvolles, denn so gut wie nie berichten solche Täter oder Täterinnen aus solchen Familiendiktaturen. In der Regel übernimmt das der Nachwuchs.
Im Reich der Mitte selber, das beschrieb die chinesische Publizistin Wie Zhang unlängst in der „Neuen Zürcher Zeitung“, sind Eltern heute eher dabei, herzlicher, freundlicher, ja, „westlicher“ mit den Sprösslingen des Landes der Ein-Kind-Politik umzugehen als die Generationen vor ihnen. Schöpferisches, freies Denken zählt mehr und mehr zu den Erziehungszielen. Zwar wirkt Chua wie eine Karikatur, wie die Hollywoodvariante der „asiatischen Mutter“. Doch tragen wohl gerade die groben, provokativen Striche, mit der sie ihr Selbstbild zeichnet, zur Konsumierbarkeit und damit zum kommerziellen Erfolg dieses Buches bei. Auf dem Weg des Westens zum Verstehen des Phänomens China wird „die Tigermutter“ ein Symptom bleiben, eine Episode.
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