Geschichten von Einheit und Teilung: Die unsichtbaren Mauern des Jemen
Im Mai 1990 wurden Nord- und Südjemen vereinigt. Es folgten Wahlen und Bürgerkrieg. Separatisten sind auf dem Vormarsch. Bericht aus einem zerrissenen Land.
Was teilt unsere Welt, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall? Zum Jahrestag des Berliner Mauerfalls hat das Goethe-Institut mit der „Mauerreise“ eine Expedition in Länder unternommen, die exemplarisch für neue und alte Teilungen stehen. Der von Michael Jeismann und Hans-Georg Knopp herausgegebene Band (260 Seiten, 28 Euro) erscheint im Steidl Verlag und präsentiert historische und literarische Essays u. a. aus Korea, China, Senegal, Irland, Zypern, Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten. Unser Autor Ali AlMuqri, geboren 1966 in Taiz im Nordjemen, lebt als Romancier und Dichter in Sanaa. Sein Text wurde von Günther Orth aus dem Arabischen übersetzt.
Kaum hatten die beiden Präsidenten des Jemen – Ali Abdallah Saleh aus dem Norden und Ali Salem al-Bidh aus dem Süden – am Morgen des 22. Mai 1990 die Fahne der Einheit gehisst, stürmten die Jemeniten in allen Landesteilen auf die Straßen. Alle gaben ihrer Freude über die Vereinigung Ausdruck. Bekannte und Unbekannte grüßten und küssten sich auf den Straßen.
Als ich am Mittag dieses Tages über den Tahrir-Platz im Zentrum von Sanaa lief, kam ein älterer Mann auf mich zu, umarmte mich und sagte: „Der Traum ist wahr geworden. Herzlichen Glückwunsch, Jemen! Ihr Jungen werdet es einmal besser haben als wir.“ Vier Jahre später, am 22. Mai 1994, als beide Landesteile wieder im Krieg waren, wollte ich den Mann, der sich „dein Onkel Abdallah“ genannt hatte, gerne wiedersehen. Aber ich fand ihn nirgends.
Wie würde wohl Onkel Abdallah kommentieren, was heute im Jemen geschieht? Mir schien, die Berliner Mauer niederzureißen war leichter als die Mauer des Jemen, auch wenn an den zwei Grenzübergängen zwischen Nord- und Südjemen, in Kirsh und Shureidja, zur Zeit der Teilung nicht mehr als leere Fässer aufgestellt waren, neben denen Grenzsoldaten Wache hielten. Bereits vor der Verkündigung der Einheit, am 30. November 1989, waren die Fässer beiseite gerollt worden. Viele Jemeniten hatten das Gefühl, dass nun auch ihre Mauer für immer verschwunden sei. Mit der Zeit aber merkten sie, dass es im Jemen nicht nur eine Grenze gab, sondern viele unsichtbare Mauern.
Drei Jahre nach der Vereinigung des Jemen, 1993, fanden zum ersten Mal in der Geschichte des Landes Parlamentswahlen statt, doch schon ein Jahr später eskalierten die Differenzen zwischen Nord und Süd erneut. Ein Krieg folgte, den der Norden nach zwei Monaten für sich entscheiden konnte. Seither nimmt der konservative und islamisch-religiöse Einfluss im Land in allen gesellschaftlichen Bereichen zu. Gleichzeitig werden im Süden separatistische Tendenzen immer stärker, während die Grenzregion zu Saudi- Arabien seit vier Jahren einen Aufstand der schiitischen Huthi-Bewegung erlebt.
Islamische Extremisten mischen sich im Jemen heute in alle Angelegenheiten des Alltags ein. Sie schreiben uns vor, was wir zu essen und zu trinken haben, was wir anziehen müssen, ja selbst welche Verse wir zu sprechen haben, bevor wir den Geschlechtsakt vollziehen. Und ich war nicht überrascht, als ich in den Zeitungen meinen Namen auf einer Todesliste fand, die Extremisten in Umlauf gebracht hatten.
Während die Regierung den Spielraum demokratischer Parteien einschränkt, gewährt sie islamistischen Gruppierungen Unterstützung. Staatliche wie kommerzielle Zeitungen argumentieren, man müsse islamische Werte und die Moral der Gesellschaft schützen und der angeblichen kulturellen Verwestlichung entgegentreten. In dieser Situation verschwimmen die Unterschiede zwischen extremen und moderaten Religionshütern.
Ich messe Zeitangaben meiner jemenitischen Mitbürger wenig Bedeutung bei. Wenn mir jemand sagt, ich könne ihn morgen um acht oder um 16 Uhr treffen, so ist diese Angabe meist belanglos, selbst wenn es sich um einen wichtigen Termin handelt. Meist wird es überhaupt nicht zu dem Treffen kommen, denn Jemeniten leben ohne Zeiteinteilung. Die einzige verplante Zeit ist für die meisten die Zeit vom Nachmittag bis in den Abend, in der die Männer vier bis fünf Stunden mit Freunden oder Verwandten Qat konsumieren, die Alltagsdroge des Landes. Die Vereinigung „Jemen ohne Qat“ schätzt, dass auf diese Weise täglich 16 bis 20 Millionen Arbeitsstunden im Jemen verloren gehen.
Studien belegen, dass Qat den Hauptteil des im Haushalt verfügbaren Geldes verschlingt, und man schätzt, dass 80 Prozent des gebohrten Wassers im Jemen zur Bewässerung von Qatpflanzen verwendet wird, obwohl das ganze Land unter Trinkwasserknappheit leidet. Mir scheint, als stelle das Kauen der Qat-Blätter eine unüberwindliche Mauer für die Entwicklung des Jemen dar.
Die Bevölkerungsgruppe der Achdam lebt hinter sichtbaren und unsichtbaren Mauern. Es ist schwierig, die jemenitischen Achdam zu definieren, ihre Herkunft ist nicht genau bekannt. Sie leben in isolierten Vierteln wie Ausgestoßene und rechtloser als Sklaven. Dass sie schwarz sind, wird als Rechtfertigung dafür gesehen, dass ihnen staatsbürgerliche Rechte und Gleichberechtigung vorenthalten werden. Fast schon Allgemeingut sind die Märchen, die über sie verbreitet werden wie jenes, dass sie keine Menschen seien, dass Sauberkeit sie abstoße und dass sie Würmer in jedem Teller hinterließen, aus dem sie essen. Diese Sichtweise ist selbst unter Wissenschaftlern verbreitet.
Die Regierung des Südjemen hatte in den siebziger Jahren versucht, die Achdam sozial zu integrieren, und ermöglichte ihnen, im öffentlichen Dienst oder in der Armee zu arbeiten und zur Schule zu gehen. Heute, 30 Jahre später, stehen die Achdam noch immer unterhalb der Gesellschaft – noch eine Stufe unter den jemenitischen Juden.
Es scheint, dass die Übergriffe gegen Juden immer dann zunehmen, wenn Israel besonders hart gegen die Palästinenser vorgeht. Zwar haben die jemenitischen Juden in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die israelische Politik missbilligen, doch hat sich ihre Lage durch den Aufstand der Huthi-Rebellen im äußersten Norden des Jemen, wo die meisten Juden lebten, drastisch verschärft. Seit einigen Jahren geben immer mehr Juden an, sie würden den Jemen verlassen, um Angriffen durch Islamisten zu entgehen und um ihr Leben zu schützen. Heute wird die Zahl der im Land verbliebenen Juden auf nur noch gut 300 geschätzt.
Die Juden des Jemen unterscheiden sich in ihren Traditionen nur wenig von den übrigen Jemeniten. Sie sprechen denselben arabischen Dialekt, genießen im Wesentlichen eine ebenso bescheidene Bildung wie diese und behandeln ihre Frauen auf dieselbe Weise. Die Rolle der jüdischen Frauen beschränkt sich auf Hausarbeit und Kindererziehung, sie müssen verschleiert gehen, und ihre Männer dürfen, wie die Muslime, mehrere Frauen heiraten.
Seit einigen Jahren bekennt sich eine begrenzte Anzahl von Politikern und Akademikern im Jemen zur Solidarität mit ihren jüdischen Landsleuten, die unter Diskriminierung leiden, und fordern die Regierung auf, Verfassungs- und Gesetzestexte zu überprüfen, die eine Bevorzugung von Muslimen beinhalten. Dazu gehört, dass laut Verfassung das Präsidentenamt einem Muslim vorbehalten ist.
Wer die frühe Geschichte der Hafenstadt Aden kennt, dem muss diese Stadt traumhaft erscheinen. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts lebten hier Araber, Inder, Juden, Somalier, Parsen, Achdam – und Briten, die Aden 1850 zum Freihafen erklärt hatten. Es gab Synagogen, Kirchen, Moscheen, hinduistische und zoroastrische Tempel und andere Gebetshäuser.
Nach dem Abzug der Briten 1967 übernahm in Aden eine linksnationale Regierung die Macht und schloss die Stadt mit den umliegenden Sultanaten zur Demokratischen Volksrepublik Jemen zusammen. In der Region blieb das Regime wegen seiner Hinwendung zum Ostblock isoliert und traf wegen seiner streng marxistischen Ausrichtung auch im Innern auf Widerstände. Aber obgleich Aden seinen weltoffenen Charakter nach und nach verlor, behielt das öffentliche Leben in der Stadt einen liberalen und internationalen Zug. Bis in die Achtzigerjahre blieb Aden ein Zufluchtsort für arabische Politiker, Denker und Schriftsteller, die in ihrer Heimat verfolgt wurden.
Nach der Vereinigung von Nord- und Südjemen musste Aden sich jedoch umorientieren. Der Krieg von 1994 zerstörte viele Erwartungen, und Aden erschien wie eine Frau, der man einen Gesichtsschleier aufnötigt, um ihre Schönheit zu verbergen.
Vor einigen Monaten sah ich in Sanaa einen Mann, in dem ich Onkel Abdallah zu erkennen glaubte. Er schien altersschwach und bewegte sich langsam und unsicher. Seine Kleidung war schmutzig, sein Haar verfilzt und voller Erde. Er schien seinen Verstand verloren zu haben, so dass ich ihn nicht ansprechen konnte. Gerne hätte ich ihn gefragt, ob er immer noch glaube, dass eines Tages auch die jemenitische Mauer verschwinden oder wenigstens ihre ständige unmerkliche Vergrößerung und Erweiterung gestoppt werden könnte.
Ali Al-Muqri
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