Kultur: Die Übergangsgesellschaft
Der iranische Filmemacher Asghar Farhadi und sein meisterliches Familiendrama „Nader und Simin“
Alleine der Anfang. Ein Ehepaar sitzt vor dem Scheidungsrichter, die Frau sagt, sie will raus aus dem Iran, wegen der Zukunft der Tochter, das Visum läuft ab. Der Mann sagt, dass er bleiben will, weil er seinen Alzheimer-Vater versorgen muss. Ob sie glaubt, dass die Tochter hier keine Zukunft habe, will der Richter wissen. Ob der Vater ihm wichtiger sei als die Tochter, fragt die Frau ihren Mann. Der Zuschauer sieht mit den Augen des Richters auf die beiden und fühlt sich nicht wohl zwischen den Stühlen. Simin will ihre Tochter mitnehmen, Nader will sie nicht ziehen lassen, sie stecken in der Sackgasse, man kann sie alle gut verstehen.
Asghar Farhadi hat für sein bewegendes iranisches Familiendrama „Nader und Simin. Eine Trennung“ auf der Berlinale im Februar den Goldenen Bären gewonnen. Seit Anfang Juni hält der 39-jährige Filmemacher sich mit seiner Familie in Berlin auf, sein halbjähriges DAAD-Stipendium wird er voraussichtlich verlängern. Seine eigene Tochter Sarina spielt im Film das Mädchen Termeh, um deren Zukunft sich der Streit dreht. Sie wird hier in Deutschland zur Schule gehen.
Erzählt der Film von der Zerrissenheit der Mittelschicht, vom persönlichen Dilemma auch der Familie Farhadi? „Ich gehe nicht in die Emigration, wir sind nur eine Zeit lang hier“ stellt Asghar Farhadi im Gespräch klar. Er ist ein mutiger, aber diplomatischer Mann, er kennt die Spielregeln der Zensur. Anders als Nader und Simin waren seine Frau und er sich über den Auslandsaufenthalt einig. „Wir sind beide Filmemacher, deshalb werden wir zurückkehren. Unsere Zukunft liegt im Iran.“ Wegen der Menschen, von denen und für die er Geschichten erzählt. „Nader und Simin“ ist trotz seiner Wirklichkeitsnähe nicht etwa verboten, sondern eine Art Blockbuster geworden, mit bisher 1,2 Millionen Zuschauern.
Farhadi versteht ein wenig Deutsch, aber er spricht Farsi, das Hin-und-HerÜbersetzen erfordert Geduld. Man spürt etwas von seiner tiefen Menschlichkeit, die seine Filme prägt, ohne dass sie die Konflikte abmildern würde. Im Gegenteil, die Empathie macht das jeweilige Dilemma umso auswegloser.
Denn nicht nur für Nader (Peyman Moadi) und Simin (Leila Hatami), auch für Razieh (Sareh Bayat), die einfache, schwangere, gläubige Frau, die Naders Vater versorgt, hat man Verständnis. Für ihren Versuch, ihrem cholerischen, überschuldeten Mann mit dem heimlichen Zuverdienst zur Seite zu stehen. Für ihre Mühe, die eigene kleine Tochter zur Arbeit mitnehmen und sich beim Waschen des inkontinenten alten Mannes an die Regeln des Korans halten zu müssen: Sie ruft eine Imam-Hotline an.
„Im Film“, so Farhadi, „gibt es drei Arten von Konflikten: zwischen den sozialen Schichten, zwischen den Eheleuten, und jeder ringt auch noch mit sich selbst.“ Menschen unter Druck, voller Zwiespalt und Zwänge: Alle sind überfordert, reden durcheinander, streiten sich, werden handgreiflich, verzweifeln aneinander. Die Kamera befindet sich immer mitten im Gemenge, in der Wohnung der Familie, in den Gerichtsfluren und Behörden von Teheran. Mit den Begrenzungen der Zensur hat Farhadis Liebe zum Kammerspiel weniger zu tun als mit der Tatsache, dass er vom Theater kommt. Bereits in seinen früheren Filmen, „About Elly“ (Silberner Bär 2009) und „Fireworks Wednesday“ (2006) hat er auf unbestechliche und doch meisterlich mitfühlende Weise beobachtet, was geschieht, wenn Menschen auf (zu) engem Raum zusammenkommen, wenn Restriktionen sie zu Notlügen und Geheimnissen zwingen. Und wenn sich hinter der modernen Lebensweise fundamentalistisches Denken Bahn bricht.
Eines Tages jedenfalls muss Razieh den alten Mann sich selbst überlassen, er fällt aus dem Bett. Deshalb kommt es später zum Handgemenge zwischen Nader und Razieh, die beim Sturz auf der Treppe ihr Kind verliert. Was einen Krieg zwischen den Ehepaaren nach sich zieht ...
Farhadi erläutert die soziale Grundspannung im Iran: „Die Ärmeren wollen mehr Wohlstand, von dem die Reicheren sie abhalten. Und die Reicheren empfinden die Ärmeren als Hemmnis für die Zukunft des Landes. Den Preis für die Modernisierung zahlt die Mittelschicht, denn sie kämpft an vorderster Front.“ Mit dem Ringen um mehr Freiheit sei es wie mit einem Tier, das sich häutet. „Schmerz ist da nicht zu vermeiden.“
Auch das eine Szene im Film: Die Männer wollen den Konflikt mit Geld lösen, die Frauen handeln einen Deal aus, sie sind in Farhadis Filmen überhaupt die pragmatischeren, die die Männer davon abhalten, nur noch hilflos um sich zu schlagen. Aber als Razieh auf den Koran schwören soll, dass sie das Kind garantiert wegen des Sturzes verloren hat, bekommt sie moralische Skrupel. Der Deal platzt. Längst haben sich alle in ihren Notlügengespinsten verheddert.
Eine Übergangsgesellschaft. „Die Zahl der Leute, die das Land verlassen wollen, nimmt täglich zu,“ erklärt Farhadi. Auch die Scheidungsrate ist höher denn je. Steht der arabische Frühling auch im Iran vor der Tür? Hofft der Regisseur, dass die Revolutionsgarden ähnlich wie die Militärs in Kairo zur protestierenden Bevölkerung überlaufen? „Ich bin kein Politiker“, antwortet der Regisseur mit verständlicher Vorsicht, „aber ich kann als Filmemacher versuchen, die Gründe aufzuspüren, warum es zu Unzufriedenheiten und Unruhen kommt.“ Wer verstehen will, was den Revolutionen in Tunesien oder Ägypten vorausging, braucht nur „Nader und Simin“ zu sehen.
Seine zu sechsjährigen Haftstrafen verurteilten Kollegen Jafar Panahi und Mohammed Rasoulof, die seit Januar auf ihre Revision warten, kennt Farhadi gut, sie sind seine Freunde. Auch für ihre Zukunft, für ihre Freiheit hat er sich auf der Berlinale starkgemacht. Trotz Berufsverbot konnten Panahi und Rasoulof ihre jüngsten, teils mit offizieller Drehgenehmigung produzierten Filme nach Cannes schicken. Filme, in denen sie ihre eigene Situation und die Schikanen gegen Regimekritiker offen thematisieren.
Zensur oder Lockerung – die Lage für Filmemacher und Intellektuelle im Iran ist verwirrend und von Willkür geprägt. Justiz und Kultusministerium, religiöse und politische Autoritäten sind untereinander zerstritten. Mancher riskiert viel und nichts stößt ihm zu, ein anderer bekommt wegen einer Banalität große Probleme. „Wir haben eine Redewendung: Manchmal ist es leichter, durch ein Nadelöhr zu schlüpfen, als durch ein Tor zu gelangen.“ Asghar Farhadi muss lachen, als er den besonderen Humor zu erläutern versucht, den man dabei unweigerlich entwickelt. „Angela Merkel fliegt nach Indien und bekommt zwei Stunden lang keine Flugerlaubnis über den Iran, dann kann sie weiterfliegen. Jetzt wisst ihr Deutschen auch mal, wie das ist, wenn man aus dem Staunen nie herauskommt.“
In Berlin möchte Farhadi erst einmal zur Ruhe kommen, das geht hier besser als im hektischen Teheran. Und was wünscht er seiner Tochter? „Was sie im Leben macht, soll nicht aufgrund von Zwängen zustande kommen. Sie soll frei wählen können.“ Im Film sitzt die Tochter am Ende vor dem Richter und wird ihm gleich ihre Wahl mitteilen, wird sagen, ob sie mit der Mutter geht oder beim Vater bleibt. Es zerreißt einem das Herz.
In sieben Berliner Kinos. OmU: fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe, Odeon
Christiane Peitz
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