Briefe: Die Sucht, die Unruhe
Ein Meilenstein der Kunstgeschichte: Eine neue Edition bisher unveröffentlichter Korrespondenz Ernst-Ludwig Kirchners zeigt die dunklere Seite des Malers.
Die große Retrospektive im Frankfurter Städel-Museum (sie läuft noch bis 8. 8.) hat das Interesse an Ernst Ludwig Kirchner neuerlich beflügelt. Ein kunsthistorisch herausragendes Ereignis dieses „Kirchner-Jahres“ ist die Publikation der Korrespondenz des Künstlers. Im November 2006 führte die Restitution und Versteigerung seiner „Berliner Straßenszene“ zu einer erregten Debatte.
„Der gesamte Briefwechsel“ liegt beim Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess in drei umfangreichen Bänden plus Registerband vor. Nach der Veröffentlichung einzelner Korrespondenzen drängte es sich auf, den gesamten Briefverkehr zu publizieren. Nicht weniger als 3562 Briefe sind jetzt dokumentiert – mit einem gewichtigen Manko: Die bereits veröffentlichten Konvolute fehlen und werden nur in Inhaltsangaben referiert. Das mag, des Umfangs der Edition halber, sinnvoll scheinen, zerreißt aber den Zusammenhang, den die Briefe in ihrem oft unversöhnlich nebeneinander stehenden Tonfall bilden.
1918 lebte Kirchner bereits in Frauenkirch bei Davos, und während er das Geschäftliche seiner als „Frau“ bezeichneten, doch niemals geheirateten „Lebenskameradin“ Erna Schilling aufbürdete, verfasste er selbst ellenlange Briefe, mit denen er seinen Nachschub an Betäubungsmitteln organisierte: „Da seit der Abreise meiner Frau am 20 Okt die Ampullen immer am Nachmittag des vorherigen Tages also zuletzt Samstag nachmittag den 6ten geholt werden durften, käme ich in große Verlegenheit, wenn ich die nächsten erst Samstag den 13ten bekäme“, schrieb er im Dezember 1919, vorausschauend gleich am Tag nach der vorangehenden Lieferung, an die Frau seines Davoser Arztes.
Die Aufgabenteilung mit Erna Schilling funktionierte gut. Während Kirchner schwülstig schrieb, „das Leben beschert mich reich zu reich an seinem Abend“, ließ er zugleich Erna die Bilder für eine Ausstellung zusammentragen: „Darf ich Sie bitten, mir das Bild ,Taunuslandschaft’ daß noch bei Ihnen steht per Post zu senden. Es ist für eine Ausstellung in Frankfurt von Kirchner vorgesehen.“
Eberhard W. Kornfeld, der Nachlassverwalter Kirchners , hat die Briefausgabe angeregt – „eine gigantische Aufgabe, die eine gewaltige Sucharbeit auslöste“, wie er schreibt. Hans Delfs, der bereits die Korrespondenz mit Hagemann und dem Davoser Arzt Frédéric Bauer bearbeitete, hat alle erreichbaren Briefe ausgewertet, auch die von Erna Schilling, die als Assistentin viele Briefe im Namen des Künstlers erledigte. Das Gesamtbild der Persönlichkeit, das sich aus den Briefen ergibt, ist alles andere als strahlend schön.
Bezeichnend für Kirchners ausgeprägtes Bestreben, das öffentliche Bild seiner selbst zu bestimmen, ist der Streit mit der Berliner Nationalgalerie 1919/20. Kirchner verwahrte sich gegen die Ausstellung seines Gemäldes „Fehmarnbucht mit Booten“ von 1913. „Es ist meine Pflicht, darauf zu achten, dass in eine solche öffentliche Sammlung Werke meiner Hand kommen, die ein tatsächliches Bild meines Schaffens geben“, schrieb er an den neu installierten Museumsdirektor Ludwig Justi. Tatsächlich war Kirchner empört darüber, dass Erich Heckel der Ankaufskommission angehörte – um keinen Preis wollte Kirchner länger mit der „Brücke“ in Verbindung gebracht werden. Und was die Publizität angeht, so lag Kirchner lange Zeit mit Paul Westheims „Kunstblatt“ im Streit – bis Westheim 1923 eine Sondernummer zu Kirchner herausbrachte. Nein, „es handelt sich nicht immer um vergnügliche Literatur“, wie Herausgeber Delfs im Vorwort einräumt.
Es dränge sich „im Laufe der Lektüre doch seine psychopathische Natur in den Vordergrund“, fügt Delfs hinzu. Im Januar 1918 schickte Kirchner an den Kunsthistoriker Eberhard Grisebach eine biografische Skizze. Darin schreibt er über seine Kindheit: „In der Jugend herrscht der Traum vor, als Knabe nachts oft Gesichte, ich schrie auf, musste auf Stunden ans Licht gebracht werden. Die nächtlichen Träume setzten sich im Tagesleben fort, Angst vor manchen Menschen.“ Genau von solcher Angst vor Menschen schrieb Kirchner auch aus seinen diversen Klinikaufenthalten. Der Bearbeiter Delfs meint dazu, die Neigung, „sich Bedrohungen einzubilden“ – sprich: Verfolgungswahn – sowie zu „schweren Angstzuständen“ sei „nicht ausschließlich Folge seiner Kriegspsychose oder seines Medikamentenabusus, sondern dass umgekehrt seine Kriegspsychose (und vielleicht die Psychose, die dem Suizid 1938 vorausging?) einer bereits vorhandenen Neigung entsprach“. Das ist in Anbetracht der großen Bedeutung, die die Sucht bei Kirchner spielt, keine akademische Frage. Wenn der Medizinhistoriker Matthias Weber mit Kirchners Arzt Frédéric Bauer von der „psychotropen Substanz“ spricht, „die in diesem biografischen Geflecht als gleichwirksames und selbständiges Moment zu bewerten ist“, so ist damit die Genese von moderner Kunst angedeutet. Ihr hängt nicht erst seit den Absinthtrinkern der Pariser Bohème um 1900 der Verdacht an, Ausgeburt geistiger Verwirrung zu sein.
Ob er sich allerdings aus Depression wegen dieser Diffamierung umgebracht hat, darf bezweifelt werden. Der einen Tag nach dem Selbstmord am 15. Juni 1938 abgefasste gerichtsmedizinische Befund spricht eine deutliche Sprache – und ist darum auch als abschließendes Dokument in die Edition aufgenommen worden. Kirchners Drogenkonsum war aufgrund vorgefundener Tabletten und Ampullen sofort kenntlich. „Diese innere Unruhe“, so der Amtsarzt, „brachte Kirchner zur Verzweiflung, er griff zur erlösenden Pistole“. Kirchner versuchte seinerzeit wieder einmal, vom Morphinsubstitut „Eukodal“ loszukommen. „Aus heutiger Sicht“, so Herausgeber Delfs, „sind psychotische und suizidale Tendenzen nicht verwunderlich. Die Vermutung, Kirchners Selbstmord sei ein Resultat der Verfemung in Deutschland, die zum festen Bestandteil der Lebensinterpretation Kirchners geworden ist, muss unter diesem Gesichtspunkt relativiert werden“. Es war Erna Schilling, die das Bild vom politisch verfolgten Künstler ausmalte. Bereits am Tag nach dem Suizid schrieb sie, „Die Diffamierung hat ihn zur Strecke gebracht. Er hat grauenhaft gelitten.“ Gelitten gewiss, zumal Kirchner alles, was in der Welt geschah, allein auf sich bezog. Die NS-Kunstpolitik, so widerlich sie war, diente ihm als letzte Projektion des Leidens an sich selbst.
Die Edition ist ein Meilenstein der Kunstgeschichte. Dem Leser erschließt sich aus den Briefen das Psychogramm eines großen Künstlers. Dessen Oeuvre lässt die Abgründe immerhin ahnen, denen es sich verdankt.
Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel. Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich. 4 Bände, zus. 2360 S., 199 €.
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