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© Berlinale

Rezension: Die Stille nach den Schüssen

Das verdrängte Massaker: Wie Andrzej Wajdas "Katyn" die polnische Geschichtsdebatte beflügelt.

Die besten Filme von Andrzej Wajda handeln von großen geschichtlichen Themen. „Der Mann aus Marmor“ (1977) entblößte den Sozialismus, „Der Mann aus Eisen“ vier Jahre später war eine Zeitaufnahme der Solidarnodk-Bewegung. Und „Kanal“, vor bereits 51 Jahren mit dem Spezialpreis der Jury in Cannes ausgezeichnet, handelte vom verzweifelten Versuch einer Gruppe polnischer Aufständischer im Warschau des Zweiten Weltkriegs, der deutschen Umzingelung zu entkommen. Die damals von französischen Kritikern feinsinnig gelobte „surreale Welt“ der „unterirdischen Odyssee“ beruhte auf historischen Fakten: Die Flucht über die Abwässerkanäle war ein Schicksal, das Tausende Warschauer lebenslang in Erinnerung behalten sollten.

Nun hat sich der mittlerweile 81-jährige Großmeister des polnischen Kinos in „Katyn“ eines lange verdrängten polnischen Traumas angenommen, und der Film avancierte in seiner Heimat sofort zu einem der wichtigsten der vergangenen Jahre – mit rund drei Millionen Besuchern seit seinem Start im September. Bei dem Überfall auf Polen 1939 machte Stalin mit Hitler gemeinsame Sache und ließ, bevor er selbst von den Nazis angegriffen wurde, 20 000 gefangene polnische Offiziere durch Schüsse in den Hinterkopf hinrichten. Das kaltblütige Massaker Anfang 1940 – die meisten der Gefangenen waren Reserveoffiziere und im Zivilleben Lehrer, Anwälte, Ärzte – blieb als Kriegsverbrechen nicht nur ungesühnt. Es wurde auch 50 Jahre konsequent verdrängt und geleugnet: angefangen damit, dass Stalin der polnischen Exilregierung in London bedeuten ließ, die Gefangenen seien wohl in die Mandschurei geflohen.

Es waren ausgerechnet polnische Zwangsarbeiter, die 1942 in einem Wald beim Dorf Katyn in der Nähe des russischen Smolensk die sterblichen Überreste der Ermordeten entdeckten. Den Nazis war damit ein Propagandathema zugefallen, das Goebbels in den Wochenschauen wirksam auszuschlachten wusste. Dass die polnische Exilregierung Vertreter zu einer Inspektion des Roten Kreuzes entsandte, benutzte wiederum Stalin als Vorwand, die diplomatischen Beziehungen zu den Londoner Polen abzubrechen und nur die polnischen Kommunisten auf der internationalen Bühne zu etablieren. Heute gilt das Katyn-Massaker in Polen als das Gründungsverbrechen, das den Kommunisten den Weg zur Macht erleichterte.

Stalins Propagandaapparat ging noch weiter: Er macht die Deutschen für das Massaker verantwortlich. Die Beweislage ließ freilich keine Zweifel offen: Bei den Getöteten fand man Hunderte von Briefen und Tagebüchern, die allesamt abrupt im Frühjahr 1940 endeten – über ein Jahr vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Die Katyn-Lüge wurde im gesamten Ostblock bis 1989 aufrecht erhalten. Auch im Westen blieb das Thema tabu: Zunächst schwiegen die Alliierten aus Kalkül – zu wertvoll war Stalin als Mitglied der Anti-Hitler-Koalition. Und auch im Kalten Krieg änderte sich nichts. Schließlich hatte man die russische Version mitgetragen.

Warum erst jetzt, fast zwei Jahrzehnte nach dem Untergang des Kommunismus, ein Film über Katyn? Die Gründe sind vielfältig. In der Aufbruchstimmung nach der Wende galt Geschichte den Polen zunächst als Ballast – manche empfanden die Beschäftigung damit als unmodern, gar unwestlich. Auch die Intellektuellen wollten endlich aus der Opferrolle heraus und einen Schlussstrich ziehen. Wenn man sich doch der Geschichte widmete, so aus der romantisch-literarischen Perspektive der polnischen Adelsrepublik. Jerzy Hoffmans „Mit Feuer und Schwert“ entschärfte bewusst die literarische Vorlage, und auch Andrzej Wajda selber konzentrierte sich, mit großem Erfolg, zunächst auf das romantische Nationalepos „Pan Tadeusz“ (1999). Die nähere Geschichte musste warten.

Es waren Historiker und junge Museumsleute, die den Blick auch der Medien auf die Wunden der jüngeren Vergangenheit lenkten. Das Museum des Warschauer Aufstandes, knapp 60 Jahre nach dem Ereignis gegründet, avancierte dank innovativer Raumnutzung und multimedialer Hilfsmittel sofort zum Publikumsmagnet. Der britische Historiker Norman Davies signierte am 60. Jahrestag des Aufstands auf dem Gelände des Museums binnen weniger Stunden 1000 Exemplare seines Buchs „Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944“. Plötzlich war das patriotische Ethos jener Jahre wieder gefragt – es folgten Bücher ausgerechnet amerikanischer Autoren, die die Polen an ihren Kampf an der Seite der Alliierten erinnerten.

Auch die Filmemacher wandten sich allmählich diesem Thema zu – aus finanziellen Gründen zunächst nur im Fernsehen. Bemerkenswert etwa die dokumentarische Inszenierung von „Hauptmann Pilecki“: Der Offizier gehörte dem polnischen Untergrund an und ließ sich freiwillig ins KZ Auschwitz deportieren, um dort ein konspiratives Netzwerk aufzubauen. Es gelang ihm, aus Auschwitz zu entkommen und einen erschütternden Bericht zu erstatten; 1948 wurde er von den Kommunisten hingerichtet.

Wo aber waren Geschichts-Kinofilme, die auch ein junges Publikum faszinierten – wie Steven Spielberg das mit „Der Soldat James Ryan“ für die Amerikaner vorgemacht hatte? Warum blieben polnische Jugendliche auf bewegende Werke wie „Sophie Scholl – Die letztenTage“ angewiesen, warum gibt es, mit dem Blick auf die jüngere Diktatur gefragt, kein polnisches Werk, das dem vielschichtigen „Das Leben der Anderen“ vergleichbar wäre?

Andrzej Wajda nun schließt diese Lücke auf seine Weise, wobei er den Stoff von „Katyn“ vor allem aus Briefen und Notizen der Gefangenen recherchierte. Manchen Polen mögen einige Szenen zu pathetisch erscheinen, etwa die Weihnachtsmesse im Gefangenenlager, nur findet man sie genau so in den Tagebüchern wieder. Der Film nimmt darüber hinaus überwiegend eine Außenperspektive ein – er konzentriert sich auf das Los der Frauen, die sehnsuchtsvoll auf ihre Ehemänner, Söhne und Väter warten. Eine vergebliche Hoffnung, mit einer für den Regisseur auch persönlichen Dimension. Der Name seines Vaters steht auf der Liste der ermordeten Offiziere.

Vor allem aber rechnet „Katyn“ mit einer jahrzehntelangen Lüge ab. Erst 1990 räumte der Kreml die sowjetische Täterschaft öffentlich ein. Präsident Boris Jelzin übergab zwei Jahre später die Kopien der geheimen Unterlagen an den damaligen polnischen Präsidenten Lech Wamvsa. Wobei sich, wie Historiker monieren, auch das heutige Russland mit der Wahrheit über Katyn schwer tut. So werden die Schulbücher, die dieses Thema behandeln, immer seltener verwendet.

Immerhin hat der nun auch für einen Oscar nominierte Film, der auch im Internet engagiert debattiert wird, im polnischen Kino einen regelrechten Klimawechsel ausgelöst. Zurzeit wird das Leben von Jan Nowak-Jezioranski verfilmt, dem legendären Emissär des polnischen Untergrundstaates. Gleich zwei preisgekrönte Drehbücher über den Warschauer Aufstand harren der Verfilmung – eine episch angelegte Chronik des Aufstandes und ein auf einen einzigen Sonntag fokussiertes Drama. Und im Herbst kommt eine Biografie über den Solidarnodk-Priester Jerzy Popiemuszko, der von den kommunistischen Sicherheitsdiensten entführt und 1984 bestialisch ermordet wurde, ins Kino. Die schmerzhafte polnische Geschichte ist – endlich – in der Gegenwart angekommen.

Tomasz Nowak

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