Kultur: Die Standzeitung
1855 war die Litfaßsäule eine Revolution. Seither wurde die Straßenreklame immer größer – doch wurde sie auch wirkungsvoller?
Das Ehrengrab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte ist leicht zu finden. Es trägt die Nummer 1. Schräg gegenüber von Bertolt Brecht und Helene Weigel liegt Ernst Theodor Amandus Litfaß, der Mann, der vor 150 Jahren die Litfaßsäule erfunden hat. Auf der gusseisern umrandeten Grabplatte steht eine Schale mit Fleißigen Lieschen und Männertreu. Nur der geschwungene goldene Namenszug auf der schwarzen Steintafel weist darauf hin, wer hier liegt. Das wirkt recht unscheinbar für einen Menschen, der sein Leben lang alles tat, um als öffentliche Person so viel Ansehen und Beachtung wie nur möglich zu erhaschen.
Es wäre unangemessen, Litfaß darauf zu reduzieren, dass er Säulen erfunden hat, an denen Werbung klebt. Vielmehr ist er der Erfinder der Außenwerbung schlechthin. Er hat den öffentlichen Raum kommerzialisiert. Am 1. Juli 1855 ließ er in Berlin die ersten Litfaßsäulen aufstellen. Sieht man sich heute in der Stadt um, könnte man denken, die Säule hätte ihren Stellenwert eingebüßt. Wie viel mehr Aufmerksamkeit erregt etwa ein Riesenposter wie jenes, das zurzeit am Leipziger Platz für ein Sonnenschutzmittel von Nivea wirbt? Wie viele Millionen Menschen aus aller Welt sahen und fotografierten während der knapp zweijährigen Sanierungszeit die Werbehülle ums Brandenburger Tor? Monatlich ließ sich das der Telekom-Konzern 180000 Euro kosten. Sponsorengeld, das in die Sanierung geflossen ist. Werbung mit diesen „Blow-ups“ – gigantischen Flächen von bis zu 1000 Quadratmetern – schaffen ein Ereignis. Sie sind Stadtgespräch. Wochenlang wurde etwa gerätselt, wer diese „Alice“ sei, die da überall an Hauswänden prangt, und wofür diese „Alice“ überhaupt wirbt. Die Neugier war groß, das Konzept des Telekommunikationsanbieters Hansenet hat funktioniert.
Riesenposter eignen sich besonders zu Imagezwecken und für Produkteinführungen, um schnell einen hohen Bekanntheitsgrad aufzubauen, heißt es bei Poster Network. Die Hamburger Firma erhielt wegen ihrer permanent neuen Ideen für Werbemöglichkeiten mit „Blow-ups“ am Mittwoch in Berlin den Mittelstandspreis „Innovator des Jahres“. Der Fachverband Außenwerbung sieht das allerdings ein bisschen anders. Riesenposter erzielen lediglich einen Nettoumsatz von 31 Millionen Euro – ein Bruchteil der 720 Millionen Euro, die in Deutschland jährlich mit Außenwerbung umgesetzt werden. Riesenposter fallen wohl deshalb so sehr auf, weil die Leute gegen übliche Werbeformen schon abgestumpft sind. Nur wer sich gezielt nach Werbung umschaut, bemerkt, wie sehr er sich an die Reklametafeln, -bilder und -schriftzüge überall auf den Straßen gewöhnt hat. Der moderne, allseits umworbene Mensch läuft offensichtlich mit selektivem Blick durch die Stadt und nimmt vieles gar nicht mehr wahr. Bei dieser Flut von Werbebotschaften hat nur noch eine Chance, was riesig, was überdimensional ist. Was ist dagegen schon eine Litfaßsäule am Wegesrand?
„Ich weiß, dass die Hälfte meiner Werbeausgaben sinnlos zum Fenster herausgeworfenes Geld ist, ich weiß nur nicht welche Hälfte.“ Das sagte Henry Ford, im Wissen, dass bei Werbung ein gewisser Grad an Streuverlusten nicht auszuschließen ist, Werbebotschaften aber auch dann ankommen, wenn der Umworbene sie nur unbewusst wahrnimmt. Nur so lässt sich erklären, dass sich Heerscharen von Herstellern den Kopf darüber zerbrechen, wie man am geschicktesten Schleichwerbung platziert – ein Thema, das nicht neu ist, in der Fernsehbranche aber zurzeit hitzige Debatten über Fragen von Legalität, Moral und Missbrauch auslöst. Der Trend scheint zu sein, entweder überdimensional plakativ zu werben – oder sich „von hinten“ ganz subtil ins Gedächtnis der Verbraucher einzuschleichen.
Werbung kann schön anzuschauen sein, aufreizende Werbung – man denke an die Dessousreklame von H & M vor einigen Jahren – kann zu Auffahrunfällen führen, Werbung kann das Stadt- und Straßenbild verschandeln. Das Motiv bleibt in Erinnerung, seltener der Werbeträger, und schon gar nicht diese altmodischen, verschnörkelten Litfaßsäulen wie jene historisierend rekonstruierte, die auf dem Berliner Mexikoplatz steht.
Den größten Umsatzanteil in der Außenwerbung erwirtschaften in Deutschland seit vielen Jahren die knapp 200000 Großflächenplakate, die auf neun Quadratmeter großen Stellwänden am Rande von Straßen, Supermärkten und Bahnlinien zu sehen sind. Die neueste Form von Außenwerbung nutzt sämtliche technischen Raffinessen der Neuzeit. Dazu gehören Videoleinwände, wie sie im S-Bahnhof am Potsdamer Platz flimmern. Da muss kein Papier bedruckt und keine Folie gespannt werden, die Werber können ihre Erkenntnisse aus Analysen zu Pendler- und Käuferströmen in vollem Umfang einsetzen. Da lockt zum Feierabend die Bierreklame auf der Videoleinwand, in der Hitze des Mittags wird auf das Motiv für Eis umgestellt, und das Einkaufszentrum wirbt nur so lange, wie die Geschäfte geöffnet sind. Alles ist gezielt programmiert.
Ist es also nur Nostalgie, wenn am Montag im Garten des Jüdischen Museums in Berlin der 150. Geburtstag der Litfaßsäule gefeiert wird? Wenn binnen weniger Tage gleich zwei Bücher zum Thema erscheinen? Das eine von Steffen Damm und Klaus Siebenhaar („Ernst Litfaß – Eine Kulturgeschichte der Litfaßsäule“, Bostelmann & Siebenhaar, Berlin), das andere, eine Biografie des „Säulenheiligen“ und Reklamekönigs „Ernst Litfaß“ von Wilfried F. Schoeller (Verlag Schöffling & Co.).
Am 1. Juli 1855 wurden die ersten 100 dieser Werbeträger aufgestellt. In Berlin, wo Ernst Litfaß 1806 geboren wurde. Zur Feier richtete die Stadt damals einen Festakt aus, für den Litfaß eigens die „Annoncier-Polka“ komponieren ließ. Er war Buchhändler, Schauspieler, Plakatdrucker und Herausgeber einiger Zeitungen gewesen, bevor ihm auf Reisen nach London und Paris die Idee kam, der wilden Zettelkleberei auf Wänden, Zäunen und Bäumen ein Ende zu bereiten. Mit Anschlagsäulen, dachte er, müsste sich gutes Geld verdienen lassen: einmal mit dem Drucken der Plakate und dann noch einmal mit deren Vermarktung.
Um die Erlaubnis zu bekommen, wandte sich Litfaß an den Berliner Polizeipräsidenten Ludwig von Hinckeldey. Am 5. Dezember 1854 erhielt Litfaß die Konzession, „zwecks unentgeltlicher Aufnahme der Plakate öffentlicher Behörden und gewerbsmäßiger Veröffentlichung von Privatanzeigen“. Zwar hatte Litfaß versprochen, auch Pissoirs mit Holz zu verkleiden und dann ebenfalls für den Plakatanschlag zu nutzen. Doch die Sache mit den „Urinoirs“ erschien ihm wohl zu wenig lukrativ. Wie man mit Stadtmöbeln, darunter auch öffentlichen Toiletten, Geld verdient, beweist heute die 1976 gegründete Wall AG, die sich als geistige Erbin des 1876 verstorbenen Litfaß sieht. Dieses Berliner Unternehmen ist es auch, das die moderne Litfaßsäule vermarktet.
Die „City-Light-Säule“ ist grundsätzlich beleuchtet, manche von ihnen drehen sich, die Werbung hängt gegen Wind und Wetter geschützt hinter einer Glasscheibe. 150 dieser Säulen stehen in Berlin an Standorten wie Unter den Linden, am Potsdamer Platz und am Kurfürstendamm. Niemand stört sich an ihnen. Anders als zu Litfaß’ Zeiten, als viele Anwohner gegen die Verschandelung öffentlichen Raums protestierten. Doch bald wurden Litfaßsäulen zu einem Ort, an dem man sich traf, sich informierte und diskutierte. Um die vorletzte Jahrhundertwende gab es in Berlin 400 davon.
Heute stehen in Deutschland 120000 und in Berlin rund 4000 Litfaßsäulen. Zu unterscheiden ist die so genannte „Ganzsäule“, auf der ein einziger Kunde wirbt und die meist von einem einzigen Werbemotiv umhüllt ist. Vor allem die Zigarettenhersteller schätzen Ganzsäulen.
Am wirksamsten erscheinen sie, wenn Form und Aussehen dieses hohen Rundum-Werbemittels richtig zur Geltung gebracht werden. So wurden Litfaßsäulen zu überdimensionalen Labello-Stiften oder Smarties-Packungen. Originell auch die Idee für eine Hutwerbung, das Gesicht einer Frau auf der Säule so zu zeigen, dass das verzierte Kuppeldach der Säule wie ein Hut erschien. Daneben gibt es die „Allgemeinstelle“. Sie funktioniert ganz klassisch wie in den Anfängen im 19. Jahrhundert und bietet Platz für Anschläge mehrerer Kunden. Meist sind es Kulturveranstalter, die ihr schmales Werbebudget auf diese Weise effektiv einsetzen können. Etwa 2200 der Berliner Litfaßsäulen dienen heute dem klassischen Plakatanschlag.
Längst vorbei sind die Zeiten, in denen Menschentrauben um Litfaßsäulen standen, um sich über Hochzeiten, Theater- oder Tanzveranstaltungen zu informieren. Erreichen sie heute eine Höhe von vier Metern, war die ursprüngliche Litfaßsäule nur 2 Meter 50 hoch. Sie diente dem Lesen. So wie in den Jahren 1870 und 1871, als Ernst Litfaß als Erster Kriegsdepeschen anschlagen durfte. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr man dort, wo Lebensmittelkarten zu bekommen sind. Die Leute klebten Vermisstenanzeigen an, in den 70er Jahren hafteten an ihnen die Fahndungsplakate mit den Bildern und Namen gesuchter RAF- Terroristen. Die Litfaßsäule war eine öffentliche Wandzeitung. Und noch heute informiert sie über Konzerte oder Lesungen.
Insbesondere in den Ausgehvierteln. Dort stehen eigens Säulen, auf deren Kranz in grünen Buchstaben „Szene-Info“ gedruckt ist, und die über aktuelle Veranstaltungen informieren. Alle zwei Tage wird ein Teil der Plakate erneuert, um die Informationen auf dem neuesten Stand zu halten. So wie jene Säule am Monbijoupark in Mitte. Kommt man von der Oranienburger Straße, dort, wo abends die Frauen vom Straßenstrich stehen, dürfte der Blick als Erstes auf das oberste Plakat mit dem weiblichen Hinterteil in roter, hautenger Hose fallen. „Lady Salsa – Kubas heißestes Showspektakel“ wird darauf für Ende August in der Arena angekündigt. Darunter hängt das Plakat zum 11. Jüdischen Filmfestival im Arsenal. Umkreist man die von einem Busch teilweise umrankte Säule, liest man auf Augenhöhe von der aktuellen Brücke-Ausstellung, dem Konzert von Ritchie Blackmores Folk-Band in der Spandauer Zitadelle, erfährt von einer Architektenausstellung über Berliner Bauten und einem Jazzfestival. Auf dem großen Plakat ganz oben wird der Betrachter über den Start des Kinofilms „My Summer of Love“ informiert, knapp über dem Betonsockel und nur für Fußgänger sichtbar, wirbt das Wintergarten-Varieté.
Bekanntmachungen öffentlicher Einrichtungen wie Wählerlisten sollen nach wie vor Vorrang bei Allgemeinsäulen haben. Aber davon ist hier nichts zu sehen. Elf Plakate und unvermietete Weißflächen für noch eine Handvoll finden Platz auf dieser Säule, die wie fünf weitere (unter anderem in Alt-Reinickendorf und auf dem Hackeschen Markt) unter Denkmalschutz steht. Die meisten von ihnen stammen aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Die Preise für Werbung an Litfaßsäulen erscheinen erschwinglich. Andreas Orth ist Geschäftsführer der VVR-Berek, die in Berlin für die Vermarktung der Litfaßsäulen zuständig ist. Das Unternehmen, das zu den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) gehört und zurzeit zum Verkauf steht, ging aus dem 1919 gegründeten Berliner Anschlags- und Reklamewesen Berek hervor, das 1933 mit der Vereinigten Verkehrs-Reklame (VVR) zusammengelegt wurde. Eine unbeleuchtete Ganzsäule, die für eine Dekade, also zehn Tage vermietet wird, kostet 20 Euro pro Tag. Ist die Ganzsäule beleuchtet, die Werbung also auch bei Nacht gut sichtbar, 24 Euro. Günstiger kommt Werbung auf der Allgemeinsäule. Ein DIN-A-1- Plakat kostet pro Tag 80 Cent. Üblich ist eine Aushängedauer von einer Woche.
Litfaßsäulen sind Ausdruck von Urbanität, erfunden zu einer Zeit, in der die Einwohnerzahl Berlins rapide anstieg und sich die Frage stellte, wie das Zusammenleben großer Menschenmassen zu organisieren ist. Als ein für jedermann jederzeit zugänglicher Informationsträger entwickelte sich die Litfaßsäule zu einem „dezidiert demokratischen Medium“, schreiben Damm und Siebenhaar in ihrem Buch. Heute gelten sie als wirksame Werbeträger, weil sie an stark frequentierten Orten laut Marktforschung vor allem bei den mobilen, kaufkräftigen, berufstätigen und damit attraktiven Zielgruppen Aufmerksamkeit erregen. Zudem habe man erkannt, dass Litfaßsäulen die „Aufenthaltsqualität“ von öffentlichen Plätzen erhöhen, sagt Andreas Orth. Seien es die lieblosen Betonsäulen, noch mehr aber jene nach den Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg nicht original erhaltenen, aber rekonstruierten Modelle mit dem verschnörkelten, in englischem Grün gehaltenen, gusseisernen Dachkranz. Die Litfaßsäule hat sich ins Stadtbild eingefügt und ist von dort nicht mehr wegzudenken.
Immer wieder gab es Überlegungen, wozu sich der Hohlraum eignen könnte. Orth erinnert sich an eine Säule in Bangkok, aus deren Inneren heraus ein Mann Zeitungen verkauft hat. Auf den ersten Blick eine reizvolle Idee, doch, in Deutschland undenkbar. Laut Vorschrift muss ein Arbeitsplatz mindestens acht Quadratmeter Raum bieten. Das Experiment, in Berlin-Hellersdorf in einer Säule mit Cola- Werbung einen Getränkeautomaten unterzubringen, scheiterte, auch werden in den Säulen nicht mehr wie früher Transformatoren untergebracht. Als Antennenanlagen für den Mobilfunk werden sie bisweilen aber durchaus genutzt.
Der Hohlraum weckte in der Vergangenheit weitere Fantasien, man denke nur an Erich Kästners „Emil und die Detektive“ aus dem Jahr 1928. Darin dient die Litfaßsäule als Versteck der Jugendbande um Emil Tischbein. Nicht zu vergessen der Film „Der Dritte Mann“ aus dem Jahr 1949. Bevor das berühmte Zitherspiel zum ersten Mal erklingt – Da-da-dam-dadamm-dadamm – ist Orson Welles in der Rolle des Harry Lime zu sehen, wie er in der Nacht durch die Gassen flüchtet. Nur das Klackern der Ledersohlen auf dem Kopfsteinpflaster ist zu hören. Die Kamera schwenkt auf einen leeren Platz, in dessen Mitte eine Litfaßsäule steht. Lime ist verschwunden, unauffindbar. In der nächsten Kameraeinstellung sieht der Zuschauer einen Polizisten, der sich an der Säule zu schaffen macht. Er klappt sie auf, die Kamera gibt den Blick frei auf eine gewundene Treppe, die direkt in die Unterwelt, in die Kanalisation Wiens führt.
Erstmals auf einem Gemälde tauchte die Litfaßsäule 1863 in Eduard Gaertners „Brüderstraße“ auf. Joachim Ringelnatz widmete ihr ein Gedicht, Egon Erwin Kisch ließ sich davor mit einer Zigarette im Mundwinkel porträtieren und verewigte sich auf diese Weise als Großstadtreporter. Im Laufe der vergangenen 150 Jahre sind modernere Außenwerbemittel entstanden, die spektakulärer und technisch raffinierter sind. Doch die Litfaßsäule ist fester Bestandteil des öffentlichen Straßenbildes. Jedes Jahr bestellt die VVR-Berek 60 bis 80 neue und erhält so ihren Bestand.
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