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Interview: "Die Stadt ist ein Festival"

Museumschef Chris Dercon kommt als Intendant an die Volksbühne. Im Interview spricht er über seine Pläne und erklärt, warum das Theater schon früh morgens beginnen sollte

Ihre Berufung nach Berlin ist ein Bekenntnis der Stadt zu mehr Cross-over in den Künsten. Warum ist das notwendig?
Ich glaube nicht an Cross-over, auch nicht an das Gesamtkunstwerk. Es ist viel interessanter, die Sachen für sich zu nehmen. Sie nebeneinander stehen zu lassen. Und davon gibt es viel in Berlin. Ich bin für eine Woche in der Stadt, um meinen Freund Ai Weiwei zu treffen, Patti Smith im Tempodrom zu hören, die Sammlung Haubrok bei „Tanz im August“ zu besuchen. Man muss sich in allen Sparten gut auskennen, um aus dem reichhaltigen Menü Berlins richtig auszuwählen.

Wie werden Sie diese verschiedenen Strömungen und Impulse der Stadt ab 2017 als Intendant an der Volksbühne zusammenbringen?
Die Volksbühne ist eine eigene Disziplin mit einem starken Apparat, der auch in andere Sphären hineinwirkt. Bert Neumann war mehr als nur ein Bühnenbildner. Er hat mit der Architektur der geteilten Stadt gearbeitet, sodass viele ihn für einen Berliner Architekten gehalten haben. René Polleschs Einfluss reicht bis in die Kunst, die Galerie Buchholz hat ihn zuletzt gezeigt. Deshalb habe ich Tim Renners Angebot auch sofort angenommen. Ich schaue mich jetzt um, was woanders passiert, etwa am Gorki oder HAU. An der Volksbühne wird es künftig mehr Tanz geben, denn Berlin hat eine starke Szene: Isabell Lewis, eine Mitarbeiterin und Muse von Tino Sehgal, Adam Linder, Constanza Macras. Garantiert gibt es kein weiteres Festival. Ich glaube nicht an Festivals. Das ganze Leben ist ein Festival mit uns als Akteuren.

Also ist die Stadt selbst für Sie ein Festival?
Absolut. Jeder Tag ist ein Festival, jeder Abend. Mir leuchtet nicht ein, warum man nur abends etwas machen sollte. Warum nicht schon um 10 Uhr morgens an der Volksbühne beginnen, damit das Theater eine echte Arbeitsaktivität wird? Außerdem wird es für jede Indoor-Aktivität und für jeden Satelliten der Volksbühne etwas draußen im Stadtraum geben.

Demnach wollen Sie Raum und Zeit verflüssigen, alles soll ineinander übergehen - innen und außen, Tag und Nacht.
Und wir verflüssigen Alltag und Kultur. Die Volksbühne bietet wunderbare Möglichkeiten mit dem Kino Babylon und später dem Prater samt Biergarten, wenn alles renoviert ist. Außerdem gibt es den Rosa-Luxemburg-Platz. Bei Tempelhof und dem Hangar 1 denke ich sofort an das Flugfeld. An allen Bühnen der Stadt wird darüber nachgedacht, wie es weitergeht angesichts der Tatsache, dass viele Neu-Berliner kein Deutsch verstehen, aber potenzielle Kunden für die Schaubühne, Volksbühne, das HAU wären. In ganz Europa wird über das sogenannte „Event-Theater“ diskutiert. Die freie Szene sollte plötzlich als Ausbund des Neoliberalismus gelten.

Bei Ihrer Berufung stand der Vorwurf des Neoliberalismus und der Eventkultur sofort im Raum. Hat Sie das verletzt?
Interessanter ist doch die Frage, was umgekehrt dieses Mobbing über Berlin aussagt. Ist die Stadt wirklich so international, so permeabel? Soll das heißen: Wir sind glücklich und wollen nichts anderes? Wir wollen nur uns selber?

In München am Haus der Kunst und an der Tate Modern haben Sie offensiv auch andere Sparten ins Programm genommen: Mode, Pop, Design, Architektur. Bringen Sie nun umgekehrt die bildende Kunst stärker ins Theater ein?
Ich habe Probleme mit bildender Kunst auf der Bühne. Das Manchester International Festival hat Douglas Gordon eingeladen, ein Stück zu inszenieren, bei dem Hélène Grimaud Piano spielt und Charlotte Rampling auf der Bühne rezitiert. Allein durch Zusammenbringen verschiedener Sparten, unterschiedlicher Künstler passiert noch nichts Neues. Das ist altbacken. Theater ist nicht nur eine Technik, sondern eine Haltung. Bildende Kunst auf der Bühne wird überschätzt. Ein Bühnenbild von Jonathan Meese oder Georg Baselitz ist keine Erfolgsgarantie. Ich könnte mir aber künftig Kooperationen anderer Art auf der Volksbühne oder in Tempelhof vorstellen.

Tino Sehgal bewegt sich zwischen beiden Sphären. Er war gleichzeitig im Haus der Festspiele und im Martin-Gropius-Bau zu sehen. Wäre das ein Modell?
Erstaunlicherweise behauptet ausgerechnet Tino, dass das Theater keine Sprache mehr für die Gegenwart ist. Dabei ist es umgekehrt: In der bildenden Kunst passiert kaum noch Wichtiges. Das hat mit dem Kunstmarkt zu tun, für den junge Künstler gezwungen sind, sofort zu produzieren. Es entstehen viele Ikea-Arbeiten.

Noch ist Chris Dercon Direktor der Tate Modern in London. Ab 2017 wird er die Nachfolge von Frank Castorf als Intendant an der Berliner Volksbühne antreten.
Noch ist Chris Dercon Direktor der Tate Modern in London. Ab 2017 wird er die Nachfolge von Frank Castorf als Intendant an der Berliner Volksbühne antreten.
© Kai-Uwe Heinrich

So schlimm?
Natürlich gibt es noch außergewöhnliche Positionen und hervorragende Ausstellungen im Neuen Berliner Kunstverein, bei Savvy, Between Bridges, im Schinkel Pavillon, in der Berlinischen Galerie. Und das Bodemuseum, wo Skulptur und Malerei zusammenkommen, ist eines der schönsten in Europa. Die Ausstellung „Das verschwundene Museum“ über die Kriegsverluste muss man unbedingt gesehen haben. Ebenso „Black Mountain College“ im Hamburger Bahnhof. Diese Ausstellungen beschäftigen sich allerdings alle mit der Vergangenheit. Wir können diese „jüngste Vergangenheit“, wie Walter Benjamin sie nennt, in der Kunst einfach besser verstehen. In der aktuellen Kunst sehe ich wenig, was stark ist.

Wechseln Sie deshalb zum Theater?
Das könnte sein. Am Theater will man immer wieder die Sprache, den Ausdruck neu entdecken, damit experimentieren. Für mich war es an der Zeit, woanders hinzugehen, um etwas zu machen, was es noch nicht gibt. Am Theater wird über andere zeitliche und räumliche Strukturen nachgedacht, neue Formen der Sprache, die für mehr Menschen verständlich sind. Ich komme aus Belgi- en, wo man zwei-, dreisprachig ist und keiner die Sprache wirklich beherrscht. Das ist doch eine interessante Idee: Muss man Deutsch wirklich perfekt sprechen? Was ist das Deutsch der Zukunft?

Vielleicht Ihre eigene internationale Mischung, die aus unterschiedlichen Einflüssen besteht?
Ich habe als 14-Jähriger Wittgensteins kurze Denksätze gelesen, seitdem schere ich mich nicht mehr um Genitiv und Dativ. Ich verstehe deshalb auch Texte von Pollesch besser als von Botho Strauss, lese lieber Alexander Kluge, Rainald Goetz und Heiner Müller. Deren Sätze gehen: ta-ta-ta-ta. Dieses Stakkato wäre ein Ansatz.

Muss man sich die Volksbühne von morgen also als gewaltigen Thinktank vorstellen, in dem über die Sprache, Kultur und Arbeit, Architektur und Urbanismus, die Zukunft der Stadt nachgedacht wird?
Kultur ist Arbeit. Sie darf nicht nur ernst genommen werden als Kapitalanlage wie in London. Wir sind zum Glück noch nicht so weit wie Barcelona, wo Kultur eine Form des Charter-Tourismus darstellt mit einer Million Besuchern bei Picasso und im Museum des FC Barcelona. Berlin muss einen anderen Weg gehen, die Stadt befindet sich in permanenter Transformation. Wir können noch bestimmen, was Kultur als Lebens-, als Arbeitsform bedeutet und wie man damit verdienen kann. Berlin ist die einzige Stadt in Europa, wo die großen Marken wie Gucci nicht weitere Läden eröffnen, sondern die Shopping-malls eher Probleme haben, Nutzer zu finden.

Was ist gut daran?
Das bedeutet, dass wir andere Möglichkeiten haben, eine andere Form der Ökonomie ausprobieren können, bei der Kultur eine wichtige Rolle spielt. Wir können von Barcelona lernen, denn Tourismus ist nicht unbedingt negativ. In Berlin gibt es drei verschiedene Formen: Kultur-, Rucksack- und Armutstourismus. Genau das möchte ich verbinden: Stadtentwicklung, Tourismus, Kultur und die Volksbühne. Vielleicht lernen am Ende London, Barcelona, Amsterdam von Berlin.

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