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Maren Ade auf dem Roten Teppich vor der Premiere von "Toni Erdmann"
© dpa

Filmfestival in Cannes: Die Stadt der Frauen

Maren Ade, Nicole Garcia, Andrea Arnold: Die drei Regisseurinnen im Wettbewerb von Cannes machen Eindruck. Und eine gilt als haushohe Favoritin für die Goldene Palme.

Und wenn nun Maren Ade nächsten Sonntag für ihren Sensationserfolg „Toni Erdmann“ tatsächlich die Goldene Palme bekommt? Dann wird, neben dem friedlich verdienten teutonischen Jubel, womöglich einmal mehr eine alte Cannes-Polemik ausbrechen, zumindest in Form eines Nachscharmützels. Etwa so: Auf der einen Seite feiern die internationalen Filmfrauen im Quotenkampf den Triumph ihrer Geschlechtsgenossin frenetisch als Sieg über die Machos der Festivalleitung - unvergessen der Jahrgang 2012, als im Cannes-Wettbewerb nur Filme von Männern liefen. Auf der anderen Seite kontert Festivalchef Thierry Frémaux kühl: „Wir wählen nur gute Filme aus. Die Jury wählt sich daraus ihren besten. Holt jetzt eine Frau die Goldene Palme, so ist das schön. Und gut. Es trifft schließlich einen guten Film.“

Schon möglich, dass dann beide Seiten wieder mal hundertprozentig recht haben, aus ihrer jeweils eigenen Perspektive. Und seit diesem Pfingstbeginn kist der Fall sogar wahrscheinlich. Bereits beim traditionellen Deutschen Empfang, der angesichts der deutschen No-Shows im Wettbewerb sonst einen Hauch Funeralfeierlichkeit verströmt, herrschte am Samstagabend ausgelassene Stimmung. Alte Branchen-Hasen berichten geradezu entgeistert vor Begeisterung von 25 Minuten stehenden Ovationen bei der „Toni-Erdmann“-Publikumsvorstellung. Und am Sonntag legt die Fachzeitschrift „Screen“ einen eigenen Rekord nach: In ihrem Wettbewerbs-Ranking vergeben die zwölf internationalen Kritiker für „Toni Erdmann“ im Schnitt sensationelle 3,8 von 4 möglichen Sternchen.

In "Mal de pierres" entdeckt eine Frau den Sex

Mehr noch: Bis zum ersten Festivalwochenende hatten alle drei Wettbewerbsfilme aus weiblicher Hand Premiere - durchaus denkbar, dass die Regisseurinnen sich demnächst im „Lumière“-Kinosaal zum Palmensegen wiederfinden. Die Französin Nicole Garcia ist mit der stimmigen Literaturverfilmung „Mal de pierres“ dabei, und die Britin Andrea Arnold hat mit „American Honey“ ein Roadmovie durch den Mittleren Westen in petto.

Das Melodram „Mal de pierres“ spielt in den 40er und 50er Jahren und rührt vor allem im Liebesleiden und der blanken erotischen Not der weiblichen Hauptfigur an. Zugleich entfaltet sich die Handlung in einer langen Rückblende angenehm zurückgenommen, sparsam im den Dialogen, und sogar der trotz aller Bändigungsmühen zum Knödeln neigende Score setzt über längere Strecken aus, um den Gefühlen der Figuren und der Zuschauer freieren Lauf zu lassen.

Es ist die eigentlich bis zum Überdruss erzählte Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern, die in der Verfilmung des Romans „Die Frau im Mond“ (2006) der Italienerin Milena Agus verblüffende Frische gewinnt. Die Bauerntochter Gabrielle (Marion Cotillard) wird an den stillen, arbeitsamen Saisonarbeiter José (Alex Brendemühl) verheiratet, den sie nicht liebt. Wegen ihrer vermeintlich fragilen Gesundheit schickt die Familie sie in ein Alpen-Sanatorium, wo sie den im Indochinakrieg verwundeten Leutnant Sauvage (Louis Garrel) kennenlernt. Mit ihm entdeckt sie, was sie schon als Schülerin in glühenden Liebesbriefen an einen Lehrer als „die Hauptsache“ beschwor: den Sex. Und dann ist der schöne Geliebte plötzlich verschwunden.

Ein Groschenromanstoff, möchte man meinen. Doch Garcia zeigt sorgfältig und dabei ganz unangestrengt, wie ein von Kindheit an erlebter Mangel an Liebe bei sensiblen Menschen extreme Exaltiertheit auslösen kann - und folglich agieren alle um Gabrielle herum platzierte Personen wie fein in Bewegung gesetzte Kulissenfiguren. Bewegen wir uns vielleicht alle nur auf einer solchen Einsamkeitsbühne, und die pure Imagination knipst die Menschen an, denen wir uns doch nahe glauben? Derlei zeitlosen Fragen ist die Regisseurin auf der Spur, in einem fein ausbalancierten Film, der sich aus seinem eindeutigen Retro-Setting sachte ins Überzeitliche hinüberbewegt, mit viel Sinn für die Farben der Melancholie.

Drei-Stunden-Roadmovie

Die Britin Andrea Arnold dagegen stürzt sich, wie in ihren vorherigen, bereits in Cannes mit Jurypreisen bedachten Filmen „Red Road“ (2006) und „Fish Tank“, ganz in die sozial fassbare und kontroverse Gegenwart. „American Honey“ beobachtet eine sehr junge Drückerkolonne auf ihrer Tour im Kleinbus, es geht ums Zeitschriftenabo-Verkaufen an der Haustür, es geht um endlos Rap und reichlich Dope, und irgendwann sind die Mitreisenden Jake (Shia LaBeouf) und Star (Sasha Lane) in eine heftige Love Story verwickelt. Dabei sind Sex oder gar Liebe zwischen den Teammitgliedern gewissermaßen vertraglich verboten.

Temporeich und unterhaltsam hebt das an als Randgruppenstudie der ungewöhnlichen Art, und besonders schön: „American Honey“ spielt zwar in Amerika, ist aber keineswegs ein „amerikanischer“ (Genre-)Film. Zwar hat das Drehbuch ein paar Thriller-Standardsituationen in petto - eine Wumme ist im Spiel, Juwelenklau, finstere weiße Cowboys, die bestimmt gleich zur Gruppenvergewaltigung schreiten etc.- , führt aber entsprechend konditionierte Zuschauer mit Vergnügen an der Nase herum. Leider taumelt der fast dreistündige Film bald selber so orientierungslos durch seine Welt wie die Figuren selbst. Das macht Lust auf einen Power-Nap im Kinosaal, da mag der Power-Rap auch noch so laut sein. 

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