„Babylon“ an der Berliner Staatsoper: Die Stadt braucht ein Update
Der Mythos klebt: Jörg Widmann und Peter Sloterdijk wollen in „Babylon“ die frühantike Weltmetropole rehabilitieren - doch die Story schwächelt.
Wäre Babylon noch bewohnt, würden einige vielleicht sagen, die Stadt müsse sich neu erfinden. Oder, wenn sie jünger sind: Sie braucht ein Update. Tatsächlich ist ihr Image problematisch, als Synonym für Sündenpfuhl taugt ihr Name bis heute; eine Fernsehserie setzt Berlin schon im Titel mit Babylon gleich. Weitere Zuschreibungen: Hybris und Gewaltherrschaft.
Schuld an der schlechten Presse ist natürlich das Alte Testament. Es erzählt vom Turmbau zu Babel als Symbol menschlichen Größenwahns, außerdem mussten die Hebräer hier mehrere Jahrzehnte in Gefangenschaft schmachten. Und die Offenbarung des Johannes nennt Babylon die „Große Hure“, auch wenn sie damit wahrscheinlich Rom meint. Dass die Ausgrabungsstätte des realen Babylon im Irak liegt, wo Tourismus aus nachvollziehbaren Gründen ausgeschlossen ist, befördert noch die Entrückung ins Mythische.
Schluss damit, meint Klarinettist und Komponist Jörg Widmann. Es ist an der Zeit, Babylon als das zu präsentieren, was es war: Eine faszinierende frühantike Weltmetropole mit einzigartiger Melange der Kulturen, die meist tolerant nebeneinander leben konnten. Seine zweite Oper „Babylon“ schrieb er auf ein Libretto von Peter Sloterdijk, der seit Langem von den monotheistischen Weltreligionen und ihrer Genese fasziniert ist.
Sloterdijk rührt in seinem Libretto einiges zusammen
„Babylon“ wurde 2012 in Widmanns Heimatstadt München uraufgeführt, inszeniert haben dort La Fura dels Baus. Jetzt, zur Neuinszenierung an der Berliner Staatsoper, führt Andreas Kriegenburg Regie. Und er tut das, was er gerne macht, auch in seiner Inszenierung von „Otello“ an der Deutschen Oper: Er stapelt die Bühnenöffnung komplett voll (Ausstattung Harald Thor), eine riesige, adventskalenderartige Wand aus offenen Räumen, darunter die blauschimmernden Ziegel des Ischtar-Tors: Babylon als vertikale Stadt. Die Anordnung kann paternosterartig komplett Richtung Schnürboden und wieder nach unten fahren. In der eher kleinen Staatsoper befördert das die gefühlte Enge, aber die Kammern erlauben auch intime Szenen und wecken zudem Bilder der Hängenden Gärten, eines der wenigen positiven Attribute der Stadt, und natürlich vom Turmbau.
Eine Gedenkminute für den verstorbenen Dirigenten Michael Gielen geht nahtlos über in eine weitere Stille, aus der sich das a capella-Wispern des Chores schält. Ein Sänger (Andrew Watts) mit riesigem, gekrümmten Stachel zitiert Verse aus den Büchern Joshua und Jesaia, die vom Wiederaufbau einer zerstörten Stadt warnen. Es ist der Skorpionmensch, eine Figur aus dem Gilgamesch-Epos.
Peter Sloterdijk rührt in seinem Libretto einiges zusammen, umarmt dabei das Pathos mit offensiver Geste. Widmann tut es ihm in der Partitur nach, mit mächtigen Clusteraufwallungen im Orchester und ausgebautem Schlagwerk, ein schimmernder Klangstrom, changierend zwischen hohem Ton, Groteske und zarter Liebeslyrik, die nur von einer Sologeige gestützt wird, gewürzt mit selten zu hörenden Instrumenten wie der Glasharmonika. Der junge Dirigent Christopher Ward, der für Daniel Barenboim eingesprungen ist, zaubert mit der Staatskapelle feurigen Klang aus dem Graben.
Was fehlt, ist dramatisches Gespür
Widmann, der für Berlin eifrig an der Partitur gearbeitet und gegenüber München manches gestrichen und neu komponiert hat, schafft es, Atmosphäre heraufzubeschwören. Doch er und Sloterdijk schwelgen so sehr darin, dass sie im Bestreben, Babylon zu rehabilitieren, offenbar die Story vergessen haben.
Die geht so: Der Jude Tammu wird seiner Seele untreu und verfällt der babylonischen Priesterin Innana. Als er den Göttern geopfert wird, um eine erneute Sintflut zu vermeiden, holt ihn Innana aus der Unterwelt zurück. Doch dieses Handlungsgerüst soll wohl vor allem als Schablone dienen für die Musik. Was fehlt, ist dramatisches Gespür, der rasche Wechsel von Innerlichkeitsmomenten mit Szenen, die die Geschichte vorantreiben.
Daran können auch die größtenteils überzeugenden Solisten nichts ändern. Mocja Erdmann, in weißem Kleid und mit blondem Haar arg holzschnitthaft als Unschuld markiert (Kostüme: Tanja Hofmann), singt eine ätherische Seele, ihre Gegenspielerin Susanne Elmark in lüsternem roten Kleid und Stiefeln eine kernige Innana. Sie ist Priesterin der freien Liebe, predigt dem noch ganz seinem Judentum verhafteten Tammu, dass mehrere Liebhaber gar nicht so übel sind: „Ist nicht das Feuer ganz in jeder Flamme?“ Große Oper kommt mit Marina Prudenskaya auf die Bühne, die als Euphrat zornig den Himmel anklagt, weil er die Sintflut geschickt hat. Stark auch die Bässe: John Tomlinson als Priesterkönig, David Ostrek in einer Nebenrolle als jüdischer Schreiber.
Die Handlung funktioniert an vielen Stellen nicht
Doch das Zentrum der Aufführung bleibt leer, Charles Workman als Tammu kann es nicht füllen. Seine Qualitäten als Darsteller sind an diesem Abend vernachlässigbar, die Komfortzone seines Tenors allzu schmal, immer wieder muss er sie verlassen, um Widmanns wilde Intervallsprünge auf einzelne Silben zu bewältigen, was für alle im Saal eine Qual ist. Dankbar begrüßt man Otto Katzameier, einen Charakterdarsteller, der „Schwester Tod“ völlig angemessen mit durchgeschmorten Sicherungen singt.
Die Handlung ist schwach und funktioniert an vielen Stellen nicht. Die Einlassszene in die Unterwelt baut Fallhöhe auf, ist als Referenz an den Weisheitstempel aus Mozarts „Zauberflöte“ gestaltet. Doch das verpufft, denn Innana braucht in einer Arie lange, um sich für den Einlass bereit zu machen, alle Beteiligten stehen arbeitslos herum. Dass der Tod Tammu freilässt, kommt unerwartet und unmotiviert.
Am Ende komponiert Widmann zu friedfertigen, konsonanten Klängen einen neuen Bund, der ohne Götter auskommt und allein auf die Menschen baut. Was die Oper noch weiter überfrachtet, vollpfropft mit kalorienhaltiger Mythologie. Wirklich satt verlässt man die Staatsoper trotzdem nicht.